Streikwelle in Grossbritannien: «Die Gewerkschaft sind wir, sie gehört uns»
Die Gewerkschafter:innen in Grossbritannien sind guter Dinge: Im vergangenen Jahr haben sich die Anfänge einer Graswurzelbewegung herausgebildet. Zu Besuch an einem Treffen von Basisaktivist:innen.
Am vergangenen Samstag drängten sich mehrere Hundert Gewerkschaftsaktivist:innen in einen Konferenzsaal im Zentrum Londons, gleich beim Bahnhof Liverpool Street. Die Sitzplätze waren schnell besetzt; Dutzende Besucher:innen mussten sich hinten in den Raum stellen oder auf den Boden setzen.
Allein schon die Tatsache, dass dieser Arbeiter:innengipfel stattfand, ist bemerkenswert. Denn vor einem Jahr wäre es unvorstellbar gewesen, dass sich Lehrerinnen, Müllmänner, Ärztinnen, Pöstler, Pfleger, Zivilbeamte und Unidozentinnen aus allen Landesteilen zusammenfinden würden – auf eigene Faust und unabhängig von ihren Gewerkschaftsvorsitzenden –, um Strategien zu besprechen und Tipps auszutauschen. Der Anlass veranschaulicht einerseits, wie viel Selbstbewusstsein die Arbeiter:innenbewegung in kurzer Zeit gewonnen hat. Andererseits spürt man an der Konferenz auch jede Menge Frust über die Art und Weise, wie die Streiks im vergangenen Jahr abliefen.
Die grosse britische Streikwelle von 2022 und 2023 ist mittlerweile etwas abgeflacht. Viele Gewerkschaften, besonders im öffentlichen Sektor, haben den angebotenen Lohnerhöhungen – darunter jene für Pflegerinnen, Lehrer, Gefängniswärter und Zivilbeamte – zugestimmt. Gemessen an den ursprünglichen Forderungen, waren die erzielten Erfolge jedoch eher mager: Die erstrittenen Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst belaufen sich auf fünf bis sieben Prozent. Bei einer Inflation, die letztes Jahr auf elf Prozent sprang und derzeit noch immer bei fast sieben Prozent liegt, ist das unter dem Strich eine klare Einbusse: Die Angestellten sind trotz Streiks ärmer geworden.
Unterschätzte Streikbereitschaft
An der Konferenz am Samstag ist die Enttäuschung darüber greifbar. Der Ärger richtet sich vor allem gegen die Gewerkschaftsführungen: Diese hätten die Bereitschaft ihrer Mitglieder, für bessere Deals zu kämpfen, völlig unterschätzt. Die Sprecher:innen auf dem Podium berichten von der Begeisterung, die die Streiks ausgelöst hatten, besonders bei Leuten, die noch nie zuvor die Arbeit niedergelegt hatten. «Unsere Streikdemos waren die grössten, die wir je erlebt haben!», ruft Carly Slingsby ins Mikrofon. Die 36-jährige Primarlehrerin ist Mitglied der Lehrer:innengewerkschaft National Education Union (NEU). «Unsere Mitglieder mussten keine Anweisungen von oben entgegennehmen: Die Leute organisierten auf eigene Initiative Meetings an ihren Arbeitsplätzen und kontaktierten andere Gewerkschaften, um Spendenkampagnen und Solidaritätsaktionen zu planen.»
Die ersten Erfolge kamen schnell nach Beginn des Lehrer:innenstreiks im vergangenen Februar: Nachdem die Regierung zunächst gesagt hatte, eine Lohnerhöhung von mehr als 3,5 Prozent sei ausgeschlossen, kam im März das Angebot von 4,3 Prozent. Die Gewerkschafter:innen lehnten es in einer Abstimmung überwältigend ab. «Wir gingen zurück auf die Streikposten und zwangen die Regierung zu einem verbesserten Angebot: Sie offerierten uns 6,5 Prozent», sagt Slingsby. Diesmal empfahl die NEU-Führung ihren Mitgliedern, das Angebot anzunehmen, und setzte sich schliesslich gegen die gewerkschaftsinterne Opposition durch.
«Wir wussten, dass die Streiks Wirkung gezeigt hatten – warum zweifelten unsere Vorsitzenden daran, dass wir die Regierung erneut unter Zugzwang setzen könnten?», fragt Slingsby. Sie ist sich sicher, dass ihren Kolleg:innen der Atem noch lange nicht ausgegangen war und die NEU einen deutlich besseren Deal hätte aushandeln können. Eine Lektion, die sie in dieser Streikwelle gelernt hat, ist diese: «Eine unserer Schwächen war, dass wir Basisaktivisten zu viel Vertrauen in die Gewerkschaftsführungen hatten», sagt sie nach der Konferenz gegenüber der WOZ.
Überhaupt seien es diese Aktivist:innen gewesen – in Grossbritannien werden sie als «rank and file» bezeichnet –, die während des Disputs Druck auf die Führung ausgeübt hatten, damit diese in den Lohnverhandlungen nicht einknickte. Slingsby ist Mitgründerin einer Gruppe namens Educators Say No, eines Netzes von Basisaktivist:innen, die sich im Zuge des jüngsten Streiks genau zu diesem Zweck zusammengetan haben: um kollektiv Forderungen gegenüber der Gewerkschaftsleitung vorzubringen. «Ohne Gruppen wie diese hätte der Streik der NEU möglicherweise nicht so lange gedauert», sagt sie.
Wie gross der Einfluss der Basis sein kann, haben die Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN), der Gewerkschaft der Pfleger:innen, im April gezeigt. Auch hier gibt es eine Rank-and-File-Kampagne, lanciert von der Gruppe NHS Workers Say No. Diese trat in Aktion, nachdem die Generalsekretärin des RCN dessen Mitgliedern empfohlen hatte, die vom Gesundheitsminister angebotene Lohnerhöhung von fünf Prozent anzunehmen. NHS Workers Say No zog eine Kampagne auf, um den Widerstand zu organisieren und die Mitglieder zu ermutigen, für einen besseren Deal zu kämpfen – am Ende gelang es der Gruppe, eine Mehrheit der RCN-Mitglieder für sich zu gewinnen: Die Gewerkschaft schlug das Angebot aus.
«Das war ein riesiger Moment», sagt Harry Eccles, ein 29-jähriger Pfleger und RCN-Aktivist, am Rand der Konferenz. «Wir Mitglieder haben die Initiative selbst ergriffen, und das ist entscheidend. Uns muss nicht gesagt werden, was wir zu tun haben. Die Gewerkschaft gehört uns, wir können eigenständig handeln und für unsere Anliegen kämpfen.»
Neue Streiks angekündigt
Dies ist der Grund, dass trotz der Rückschläge der vergangenen Monate eine so zuversichtliche Stimmung an der Arbeiter:innentagung herrscht: In allen Gewerkschaften sind die Basismitglieder dabei, sich zu organisieren und zu vernetzen. Während der Streiks sind Tausende Mitglieder zum ersten Mal aktiv geworden, viele wollen sich jetzt dauerhaft für die Gewerkschaft engagieren, als Vertreter:innen an ihren Arbeitsplätzen oder im lokalen Ableger ihrer Organisation. In Umrissen lassen sich die Anfänge einer Basisbewegung innerhalb der Gewerkschaften erkennen. «Viele unserer jungen Lehrer haben gemerkt, dass sie tatsächlich etwas erreichen können, wenn sie die Arbeit verweigern», sagt Carly Slingsby. «Das ist etwas, worauf wir aufbauen können, und darum bin ich sehr hoffnungsvoll.»
Zudem sind die Streiks noch lange nicht vorbei. Die Bahnangestellten, die im Juni letzten Jahres die Rebellion der Lohnabhängigen so richtig angestossen haben, sind nach wie vor im Disput mit den Bahnbetreiberfirmen; sie legen am Samstag erneut die Arbeit nieder. Nächste Woche streiken die Assistenz- und Fachärzt:innen gemeinsam, genauso die Dozent:innen in Dutzenden Universitäten. Zudem sind unzählige lokale Streiks im Gang.
Man muss vom Konferenzzentrum bei der Liverpool Street nur eine Strasse weiter in Richtung Osten gehen, da riecht man schon den nächsten: Im Stadtteil Tower Hamlets türmen sich die Abfallsäcke, weil die Beschäftigten der Müllabfuhr seit letzter Woche streiken.