Film: Den Herrenmenschen aufs Maul
Das Actionepos «RRR» aus Indien feiert antikoloniale Widerständigkeit und ist eine einzige Reizüberflutung. In diese mischen sich aber auch ultranationalistische Töne.
Die Revolution wird nicht im Fernsehen übertragen, dafür läuft sie auf Netflix. Auf der Streamingplattform ist derzeit ein antikoloniales Actionepos namens «RRR» zu sehen, das in den vergangenen Wochen zu einem der weltweit meistgestreamten Filme avancierte. Der Titel steht für «Rise, Roar, Revolt»: Steh auf, brülle, revoltiere – was den agitatorischen Inhalt des dreistündigen Spektakels auch gut auf den Punkt bringt.
Der in Indien produzierte Film, der in der Schweiz noch kein Aufsehen erregte, als er im Frühjahr kurz im Kino lief, spielt im Jahr 1920, als der Subkontinent unter britischer Herrschaft stand. Die Handlung beginnt mit einer Art interkulturellem Missverständnis: Ein britischer Gouverneur (Ray Stevenson) und seine Leute machen während eines Jagdausflugs in einem Dorf halt, wo ein Mädchen namens Malli (Twinkle Sharma) der Gattin des Statthalters die Hand kunstvoll mit einem Tattoo verziert. Ein Lakai schnippt der Mutter des Mädchens zwei Münzen vor die Füsse. Erst kurz darauf begreifen die Dorfbewohner:innen, dass die Kolonialherren mit dem Almosen das Mädchen gekauft zu haben meinen – so als wäre es irgendwelcher Plunder vom Touribasar.
Als Mallis Mutter verzweifelt versucht, die Verschleppung ihrer Tochter zu verhindern, zückt ein britischer Offizier seine Pistole. Doch der Gouverneur schreitet ein: Ob denn der Soldat eine kostbare englische Patrone an den «braunen Dreck» verschwenden wolle? Der Soldat zertrümmert daraufhin der Mutter mit einem dicken Holzast den Schädel.
Das absolut Böse ist weiss
Keine zehn Minuten läuft «RRR» bis dahin, und schon ist klar, dass Weissen hier fast ausschliesslich die Rolle des absolut Bösen zukommt. Das dürfte die Popularität des Films gerade im Globalen Süden erklären, ist aber auch für Zuschauer:innen aus dem reichen Norden eine erfrischende Irritation: Hier wird der Kolonialismus nicht etwa als subtiles Historiendrama verhandelt, sondern in eine wutschäumende Heldenstory gepackt, die sich nicht um Differenzierungen schert. «RRR» ist zwar keine seriöse Geschichtslektion, macht dafür aber viel Spass: Der Film lässt kaum Zeit zum Atemholen, spektakulär choreografierte Actionsequenzen reihen sich aneinander.
Im Zentrum steht die Geschichte zweier realer Widerstandskämpfer, die den bewaffneten Aufstand gegen die britische Krone probten: Komaram Bheem und Alluri Sitarama Raju. Allerdings hat sich der Regisseur S. S. Rajamouli, der zu den erfolgreichsten Filmemacher:innen Indiens zählt, bei der Aneignung des historischen Stoffes viele Freiheiten gestattet. In «RRR» treffen Bheem (N. T. Rama Rao Jr.) und Raju (Ram Charan) erst als Gegenspieler aufeinander, ehe sie sich zusammenzutun, um das verschleppte Mädchen zu retten und Brit:innen umzunieten. In Wirklichkeit waren die beiden einander nie begegnet – und sie verfügten natürlich auch nicht über die übermenschliche Kraft, die ihnen Rajamouli andichtet.
Bei ihm dürfen die Superhelden aber auch mal weinen, und es gibt immer wieder fröhliche Gesangs- und Tanzeinlagen. In einer besonders ausgefeilten Szene nutzen Bheem und Raju einen Hausball bei den Europäer:innen dazu, um mit ihren artistischen Fähigkeiten den kulturellen Chauvinismus der Kolonialherren auf der Tanzfläche symbolisch in die Knie zu zwingen.
In dieser geballten Reizüberflutung werden dann aber nationalistische Töne immer lauter. Am Ende werden da Flaggen besungen, für die «wir unser Leben geben», und die Kampfkraft eines Landes wird gepriesen, das «in jeder Strasse und jedem Haus einen eisernen Mann» beherbergt. Letzteres dürfte Frauen eher nicht mitmeinen, diese sind in «RRR» nämlich ausschliesslich hübsch anzusehende Staffage.
Dubioser Subtext
Nun ist es eine alte Debatte, wie problematisch es ist, dass der historische Antikolonialismus oft in nationalistischem Gewand daherkam. Subalterner Nationalismus ist sicher nicht einfach dasselbe wie europäisches Herrenmenschentum. Allerdings wird Indien heute nicht mehr von Brit:innen, sondern von rechten Hardlinern regiert, deren Programm insbesondere von der grossen muslimischen Minderheit im Land Unterordnung verlangt.
In der fast einhellig begeisterten internationalen Kritik wurde dieser Kontext kaum thematisiert; zumindest aber das US-Onlinemagazin «Slate» verwies auf den dubiosen Subtext angesichts heutiger politischer Verhältnisse: Dass sich Rajamouli etwa ausgiebig religiöser Symbole («hardcore hinduism through and through») bediene, korrespondiere mit der autoritären Regierungslinie, Indien in einen ethnozentristischen Hindustaat umzubauen. Dazu passe auch, dass «RRR» gänzlich den muslimischen Widerstand gegen den Kolonialismus ausblende, obwohl dieser historisch eine bedeutende Rolle gespielt habe.
Für Zuschauer:innen, die mit den kulturellen Referenzrahmen auf dem Subkontinent nicht vertraut sind, ist dergleichen nur schwer einzuordnen. «RRR» ist ohnehin eine einzige audiovisuelle Überwältigung. Wo aber allzu laute Heldenlieder erklingen, schadet etwas Argwohn nicht, auch wenn die Bilder dazu kunterbunt sind.
«RRR». Regie: S. S. Rajamouli. 2022. Auf Netflix.