«Fides 22»: Festspiele gegen den Terror

Nr. 32 –

Kommende Woche trainieren Armee und Kantonspolizei in Bern gemeinsam für den Krisenfall. Die Übung wirft Fragen auf. Diese zu beantworten, halten die verantwortlichen Behörden nicht für nötig.

Plakate an einer Wand rufen in Bern zum Protest gegen die ­gross angelegte Militär- und Polizeiübung auf
«Markieren, provozieren, sabotieren»: Plakate rufen in Bern zum Protest gegen die ­gross angelegte Militär- und Polizeiübung auf.

Eine junge Frau mit Schleier oder Stola, gekrönt mit einem Olivenzweig, in den Händen – je nach Darstellung – eine Schale oder einen Fruchtkorb: In der römischen Mythologie war die Göttin Fides das personifizierte Vertrauen. Als «Fides Publica», öffentlicher Glauben, galt sie später als Hüterin von Verträgen mit anderen Staaten. Ihre Bedeutung soll so gross gewesen sein, dass die Römer zu ihren Ehren sogar jährliche Festspiele veranstalteten.

Festspiele der etwas anderen Art finden kommende Woche in Bern und Umgebung statt. Vom 15. bis zum 19. August üben unter der Ägide von Berner Sicherheitsdirektion und Verteidigungsdepartement (VBS) die Kantonspolizei und die Armee «für den Krisenfall». Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sie ihr Manöver «Fides 22» getauft haben. Eigentlich hätte die Übung schon letztes Jahr stattfinden sollen, wegen der Pandemie wurde sie verschoben.

Nun, so lässt sich einer Mitteilung der Sicherheitsdirektion entnehmen, soll die Armee – genauer: die sogenannte Territorialdivision I – «wichtige und für das Funktionieren des öffentlichen Lebens kritische Infrastrukturen» schützen, «konkret und detailliert» und «teilweise im Massstab 1 : 1»: Verteilzentren für Lebensmittel etwa, Tunnels, Brücken oder Viadukte, Rechenzentren der Energieversorgung und der Regierungsgebäude. Denkbar sei auch der «Schutz wichtiger Transporte» oder von Botschaften.

Flugzeugentführung und Sabotage

Über das konkrete Übungsszenario hüllen sich die Beteiligten in Schweigen – bekannt ist nur, dass es sich um eine «länger andauernde Terrorbedrohung» handelt. Aufbauen soll das Manöver aber auf Erkenntnissen aus der «Sicherheitsverbundsübung 2019» («SVU 19»): einer nationalen Krisenübung, bei der ebenfalls der Umgang mit einer «länger andauernden Terrorlage» trainiert wurde. Immerhin wird im dazugehörigen Schlussbericht das damalige Szenario detailliert beschrieben.

Als Gegenseite diente den Sicherheitsbehörden demnach eine fiktive Gruppe namens «Global Liberation Front», wobei es sich um einen «generischen Modellgegner» gehandelt habe. Die Schweiz gehört wie andere westliche Staaten zum «Feindbild». Weil laut dem Szenario einige ihrer Mitglieder nach einem Anschlag gegen die Uno in Genf verhaftet worden sind, ruft die Terrorgruppe zu Attentaten in der Schweiz auf. Mit verheerenden Folgen fürs ganze Land. Denn die Global Liberation Front, so stellt sich heraus, ist bemerkenswert schlagkräftig.

Zunächst verübt sie einen Anschlag auf den Hauptbahnhof Zürich. Nur wenige Tage später gelingt es ihr, mit Sabotage- und Cyberangriffen die Stromversorgung sowie den Bahn- und den Zahlungsverkehr schweizweit «massiv» zu stören. Sie legt ausserdem einen Grossbrand, der das Armeelogistikcenter ausser Gefecht setzt und sowohl eine wichtige Autobahn als auch eine Bahnlinie lahmlegt. Und das ist erst die Ausgangslage. Hinzu kamen in der «SVU 19» weitere Cyberattacken, Angriffe auf Botschaften, Drohnenangriffe auf Flughäfen, eine Bedrohung des Kernkraftwerks Beznau, ein durch Falschmeldungen hervorgerufenes Verkehrschaos, ein entführtes Flugzeug. Und nicht zu vergessen: die landesweite Vergiftung der Lebensmittelversorgung. Und das alles innert 52 Stunden.

«Da muss man nichts erfinden», sagte der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) über das Szenario einer «länger anhaltenden terroristischen Bedrohung» gegenüber «20 Minuten». Das hätten vergangene Anschläge in europäischen Städten bewiesen. Auskunft über den genauen Ablauf der Übung könne er nicht geben, weil es wichtig sei, dass die übenden Sicherheitskräfte das Szenario nicht schon im Voraus kennten. So weit, so logisch.

Gerne hätte die WOZ von der Sicherheitsdirektion aber erfahren, ob «Fides 22» auf Initiative des Kantons oder der Armee erfolgt, welche Behörden involviert sind, wie viel Geld im Kanton für Planung und Umsetzung der Übung budgetiert wurde. Und wer wann den Entschluss dazu gefasst hat. Aber Müller wollte nicht reden. Auf die Frage, ob man wenigstens begründen könne, wieso man der WOZ jegliche Auskunft verweigere, antwortete seine Assistentin mit einem Nein. Über den Verlauf der Übung würden die Medien aber zu gegebener Zeit informiert.

Redseliger zeigte sich Müller nicht nur gegenüber den Tamedia-Zeitungen und dem «Blick», sondern auch gegenüber dem Branchenblatt «Schweizer Soldat». In einem Interview vom Juli betonte er, dass die Polizei in Krisensituationen auf die Unterstützung der Armee angewiesen sei, dass Bern einen zu tiefen Bestand an Polizist:innen habe und dass die Linke «die politische Realität nicht wahrhaben» wolle.

Das auf Bundesebene verantwortliche VBS schrieb nach anfänglicher Absage immerhin, dass auf seiner Seite keine zusätzlichen Kosten für die Übung hätten budgetiert werden müssen und dass sich die Inhalte solcher Übungen «nach den eigenen Bedürfnissen gemäss Auftrag der Armee sowie denjenigen ihrer Partner» richteten. Also etwa nach denjenigen des Kantons Bern.

Schwammige Definitionen

Dass der Protest gegen eine so gross angelegte Übung nicht ausbleiben würde, war abzusehen. Und so hat sich in Bern im Vorfeld eine autonome Gruppe namens «No Fides» formiert. Unter dem Motto «Never trust cops, soldiers or the state» finden in den kommenden Tagen eine Demo und Veranstaltungen statt: zu Polizeigewalt, der Militarisierung der europäischen Aussengrenzen oder zu «Militär, Männlichkeit und Militanz». Die Gruppe ruft ausserdem dazu auf, die Übung zu sabotieren. «Uns geht es darum, den Blick darauf zu richten, wer darüber entscheidet, was Terrorismus ist und was nicht. Wer diese Diskurse prägen und einen solchen Begriff instrumentalisieren kann» – so erklärt die Gruppe ihre Motivation gegenüber der WOZ.

Was in der Schweiz als Terror gilt, ist im «Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus», kurz PMT, geregelt, das im Juni in Kraft getreten ist und die Polizei mit weitreichenden Kompetenzen ausstattet. Die äusserst schwammige Definition, nach der schon die «Verbreitung von Furcht und Schrecken» als «terroristische Aktivität» gilt, war im Vorfeld weithin kritisiert worden, unter anderem von sechzig renommierten Rechtsprofessorinnen und Uno-Experten. Mit «Fides 22» trainierten Polizei und Militär Aufstandsbekämpfung «unter dem Deckmantel, Sicherheit für die Bevölkerung zu gewährleisten», befürchten die Aktivist:innen.

Etwas polemisch formuliert: Könnte in Zukunft die Armee aufgeboten werden, wenn die Klimabewegung Autobahnen blockiert, wie es dieses Jahr schon die Gruppe Renovate Switzerland gemacht hat? Wird in Bern tatsächlich die Bekämpfung von Aufständen geprobt, die aufgrund der Weltlage auch in der Schweiz immer wahrscheinlicher werden? In der «SonntagsZeitung» warnte letztes Wochenende immerhin auch Pierre-Yves Maillard, der oberste Gewerkschafter des Landes, angesichts von massiv steigenden Preisen und unsicherer Energieversorgung vor «sozialen Unruhen».

Ein internationaler Trend

Dass die Trennung zwischen Militär und Polizei immer mehr verschwimmt, ist ein internationaler Trend. Auch die Berner Grossrätin Rahel Ruch vom Grünen Bündnis beobachtet in den letzten Jahren eine «Verwischung der Grenzen zwischen äusserer und innerer Sicherheit». «In kleinen Schritten gewöhnen wir uns daran, dass der unmittelbare Schutz vor Terroranschlägen zum Alltag gehört», sagt sie. Als Beispiel nennt Ruch etwa den Einbau von Betonpollern zum Schutz vor Anschlägen in der Berner Innenstadt.

Die Berner Sicherheitsdirektion verweist in ihrer Medienmitteilung ebenfalls auf internationale Entwicklungen. So seien etwa in Belgien, Italien und Frankreich «Soldaten in den Strassen kein ungewohntes Bild». Auch in Deutschland werde die Zusammenarbeit zwischen Militär und Polizei trotz «historisch bedingter Vorbehalte» seit einigen Jahren intensiv geübt.

Neu sind solche gemeinsamen Übungen auch in der Schweiz nicht. Im Kanton Zürich etwa wird beim Flughafen die Zusammenarbeit der Armee mit den zivilen Behörden jedes Jahr trainiert. Auch in Genf, Solothurn oder St. Gallen fanden in den vergangenen Jahren ähnliche Manöver statt. «Ziel ist es dabei, die Grundbereitschaft jederzeit sicherzustellen», schreibt dazu das VBS. Die Berner Sicherheitsdirektion hält indes fest, dass der Lead auch bei Ereignissen wie jenen, die nächste Woche in Bern trainiert werden sollen, bei der Polizei verbleibe.