Bei Wagenknecht und Schwarzer: Buhrufe, weil russische Fahnen verboten sind

Nr. 9 –

In Berlin demonstrieren Zehntausende gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und dafür, dass Deutschland Verhandlungen forciert – die Folgen des Protests dürfte zunächst vor allem die Linkspartei zu spüren bekommen.


Petrus jedenfalls scheint kein Friedensfreund zu sein. Schwere Wolken hängen an diesem Samstag über Berlin, Schneeregen zerfliesst zu grauem Matsch, es ist windig und «schweinekalt». So formuliert das Uta Sander, während sie ihren Regenschirm aufklappt, auf dem in weissen Lettern «Peace» geschrieben steht. Die Sechzigjährige stapft mit einem Menschenstrom mit, der sich vom Hauptbahnhof aus vorbei an der riesigen Baustelle vor dem Bundestag hin zum Brandenburger Tor bewegt. Sie ist früh am Morgen in Süddeutschland in den Zug gestiegen, um hier zu demonstrieren. «Damit die Erde eine Zukunft hat», wie sie sagt. Schon in den achtziger Jahren habe sie die Angst vor dem Atomtod auf die Strasse getrieben, heute sei das wieder so.

Diese Angst wie auch den friedensbewegten Westdeutschland-Hintergrund teilt Sander mit einigen, die am Samstag in die Mitte der deutschen Hauptstadt gekommen sind, um ihren Unmut über die Bundesregierung, über Waffenlieferungen an die Ukraine und fehlende diplomatische Initiativen zum Ausdruck zu bringen. Aufgerufen hat dazu ein Kreis um Sahra Wagenknecht, frühere Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag, heute Abgeordnete. Knapp zwei Wochen zuvor hatte sie zusammen mit der Publizistin Alice Schwarzer und 69 Erstunterzeichner:innen ein «Manifest für Frieden» sowie den Aufruf zur Kundgebung veröffentlicht. Selten hat eine Demonstration bereits im Vorfeld für derart viel Medienecho gesorgt wie diese. Es gehe den Initiator:innen gar nicht um Frieden, sondern um die Unterwerfung der Menschen in der Ukraine unter russische Herrschaft, so eine vielfach geäusserte Kritik.

Ist das die Querfront?

«Ja, es ist ungerecht, wenn einer ein Land überfällt und dann mit einem Kompromiss belohnt wird, aber man muss es auch realistisch sehen: Russland kann man nicht besiegen», sagt dagegen Herr Voigt aus dem Ostberliner Bezirk Lichtenberg. Schiebermütze, hochgeklappter Kragen und die Hände in die Anoraktaschen gestemmt, steht er etwas am Rand, fast schon im Tiergarten, und schaut Richtung Brandenburger Tor, wo die Bühne aufgebaut ist. Gerade eben, als der Versammlungsleiter Auflagen der Polizei vorlas, kam das erste Mal so etwas wie Stimmung auf: Buhrufe, weil russische Fahnen, Z-Symbole, aber auch sowjetische Symbole verboten sind. Danach ist schnell wieder Ruhe. Dafür, dass sich hier so viele Menschen versammelt haben, ist es erstaunlich still, es gibt kaum Sprechchöre, alle warten darauf, dass auf der Bühne etwas passiert. So auch Herr Voigt. «Von dem Schietwetter lass ich mich nicht aufhalten», brummelt er. Und lächelt dann doch verhalten. «Dafür gehts um zu viel. Ich habe Angst vor einem Dritten Weltkrieg.»

Aus den Lautsprechern hört man inzwischen Alice Schwarzers Stimme. Dann plötzlich ergreift – zum ersten Mal heute – Sahra Wagenknecht das Wort. Applaus brandet auf. Auch Herr Voigt klatscht in die Hände. «Die Wagenknecht ist gut», sagt er. Ob er nicht Sorge habe, hier zusammen mit Faschisten zu demonstrieren? Herr Voigt blickt um sich. Doch, wenn er ehrlich sei, das habe ihm schon Sorge bereitet, es sei ja vorher «einiges in diese Richtung berichtet worden», sagt er. «Aber sehen Sie sich doch um, hier sind keine Neonazis.»

Herr Voigt hat recht: Es wurde so einiges im Vorfeld berichtet. Ob es an diesem Samstag zur offenen Querfront zwischen Wagenknecht-Linken, in der Coronakrise entstandenem Querdenker:innenmilieu und extremen Rechten kommen würde, war sicherlich die am intensivsten debattierte Frage vor der Kundgebung.

Herr Voigt liegt noch in einem zweiten Punkt richtig: Auf den ersten Blick erkennbare Neonazis sind nicht zu sehen. Das heisst aber nicht, dass keine da wären. Neben Menschen, die schon gegen die «Coronadiktatur» demonstriert haben und sich beispielsweise in der Querdenker:innenpartei «dieBasis» sammeln, deren Fahnen mehrfach zu sehen sind, sind auch einige prominente Gesichter der extremen Rechten vor Ort: Hochrangige AfD-Politiker wie der sachsen-anhaltinische Abgeordnete Hans-Thomas Tillschneider sind da, die rechte Publizistin Ellen Kositza schwärmt am Tag danach von einer ausländerfreien Demo, sie und ihr Anhang hätten ungestört ganz vorne in der Kundgebung gestanden und seien «etwa zwei Dutzend Mal herzlich von Lesern gegrüsst» worden. Ein weniger entspanntes Demoerlebnis hat dagegen der frühere Linke und heutige Herausgeber des faschistischen «Compact»-Magazins, Jürgen Elsässer, den etwa Hundert Antifaschist:innen, ebenfalls Teilnehmende der Friedenskundgebung, und einige Mitglieder der Linkspartei einkreisen und mit «Nazis raus»-Sprechchören zum Abzug bewegen. Ein Grossteil der Kundgebungsteilnehmer:innen bekommt davon allerdings gar nichts mit

Sie lauschen gebannt den Reden: Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg, die auch Uta Sander oder Herrn Voigt hierhergebracht hat, ist dabei verbindendes Motiv. Sie sei «mit der Angst vor einem Atompilz über Berlin» gross geworden, ruft Sahra Wagenknecht in ihrer Rede mit bebender Stimme in die Menge. In den Jahren nach Gorbatschow habe sie, so die 53-Jährige, vergessen, was es heisst, «Angst vor Krieg zu haben». Jetzt aber sei diese Angst wieder da.

Wagenknecht weist zudem den Vorwurf, Rechte eingeladen zu haben, von der Bühne aus empört zurück. Befeuert aber haben sie und ihre Vertrauten diese Diskussion selbst. Zum einen atmet der Text des «Manifests für Frieden» einen nationalistischen Geist: Der Mahnung an den deutschen Bundeskanzler, «Schaden vom deutschen Volke abzuwenden», können sich problemlos alle, von alten Friedensbewegten über Sozialdemokrat:innen bis zu extrem Rechten, anschliessen. Zum anderen waren die Äusserungen, mit denen der Kreis um Wagenknecht darauf reagierte, dass extreme Rechte sofort nach der Veröffentlichung des Manifests damit begannen, dieses offensiv zu bewerben und für die Kundgebung zu mobilisieren, vielseitig deutbar. Rechtsextreme Symbole würden nicht akzeptiert, aber wer ehrlichen Herzens für Frieden demonstrieren wolle, sei willkommen. Und überhaupt: Rechts sei das Gegenteil von friedensliebend, wiederholt Wagenknecht auch auf der Kundgebung noch einmal.

Nun ist es aber so, dass heute – anders als bei einigen Kriegen in der Vergangenheit – die deutsche Rechte zwar nicht geschlossen, aber zu einem gewichtigen Teil inhaltliche Überschneidungen zu den Positionen derer aufweist, die das Manifest und die Kundgebung initiiert haben. Da Wagenknecht und andere dies negieren, statt sich unmissverständlich abzugrenzen, zog beispielsweise der Politologe und Erstunterzeichner des Manifests, Johannes Varwick, seine Unterschrift wieder zurück. Auch die altgediente Deutsche Friedensgesellschaft kritisierte die Kundgebung scharf. Man habe damit «nichts zu tun», erklärte der Verband und begründete dies unter anderem damit, dass die Forderung nach «Schutz und Asyl für alle Menschen, die vor Krieg fliehen müssen – insbesondere auch für Kriegsdienstverweigerer:innen und Deserteur:innen», im «Manifest für Frieden» fehle. Das mache es «nach rechts anschlussfähig», so die DFG-VK.

Zukunft der Linkspartei

Und: Auch der Parteivorstand der Linken, deren Mitglied Wagenknecht ist, distanzierte sich wegen der fehlenden Abgrenzung nach rechts von der Kundgebung und rief stattdessen zur Teilnahme an anderen Antikriegsaktionen auf. Der seit langem schwelende innerparteiliche Streit ist also wieder voll ausgebrochen. Damit liegt auch die Frage, ob sich die Partei spaltet und es zur Gründung einer Liste Wagenknecht kommt, erneut auf dem Tisch. Für die Mehrheit jener, die vor dem Brandenburger Tor blau-weisse Fahnen mit Friedenstauben und die bunte Pace-Flagge schwenken, wäre dies sicherlich eine gute Nachricht. Für sie ist Wagenknecht eine Galionsfigur. Auch Herr Voigt sagt, er würde eine Partei mit Wagenknecht an der Spitze wählen.

«Ich glaube, dass wir in Deutschland Bedarf an einer Partei haben, die all diese Menschen vertritt», sagt Wagenknecht dazu am Montagabend in einer Talkshow. «Ich wünschte, das wäre die Partei, der ich noch angehöre.» Auch darum ging es sicherlich an diesem grau-kalten Samstag: zu sehen, wie gross die mobilisierbare Unterstützung für eine Liste Wagenknecht derzeit ist. 20 000 bis 30 000 Menschen bei einer bundesweiten Demonstration, das ist nicht überwältigend für etwas, dem im Vorfeld derart viel Aufmerksamkeit zuteilwurde.

Herr Voigt ist dennoch zufrieden. «Nun frierts mich aber doch an den Zehen», ruft er und tippt zum Abschied an seine Mütze. Während sich die Kundgebung auflöst, Herr Voigt zurück nach Lichtenberg und Uta Sander nach Süddeutschland fährt, tobt in den sozialen Medien längst der Kampf um die Deutungshoheit über die Aktion.

Die in schrillen Tönen geführte Debatte wird sich wohl noch weiter drehen – einen Einfluss auf die Politik der Bundesregierung dürfte die «neue Friedensbewegung» kurzfristig aber kaum entfalten, auch weil unklar bleibt, was nach Petition und Kundgebung noch kommen soll. Am unmittelbarsten trifft das, was sich da formiert, die Linkspartei, die wie keine andere in Deutschland in der Frage des Umgangs mit dem Krieg gegen die Ukraine gespalten ist und die nun erneut vor der Frage steht, wie es mit den verfeindeten Lagern weitergehen soll. Als Friedensfreund:innen sehen sich alle in der Partei, aber Frieden untereinander scheint in ebenso weiter Ferne wie an diesem Samstagnachmittag ein klarer Himmel in Berlin.

Demos in der Schweiz : «Den Dieben das Geld wegnehmen»

Unterschiedlicher hätten die Menschen nicht sein können, die aus Anlass des Jahrestags der russischen Invasion gegen die Ukraine am Samstag in Zürich auf die Strasse gingen. Da war einerseits die Demo des Bündnisses «Schluss mit Krieg» am Helvetiaplatz, organisiert von Gruppen wie der Schweizerischen Friedensbewegung, der PdA und unterschiedlichen Diaspora-Organisationen (darunter keine von Russinnen oder Ukrainern).

Dass Russland angegriffen hat, verurteilten die Redner:innen zwar noch knapp; schlimmer fanden sie aber das «imperialistische Kriegsbündnis Nato» und dessen Waffenlieferungen. Wie in Berlin gehörten auch in Zürich «Verhandlungen» und ein «Waffenstillstand» zu den Forderungen – ohne dass diese näher konkretisiert wurde. Zu einer Querfront mit rechtsextremen Akteur:innen wie dort ist es in Zürich allerdings nicht gekommen.

Knapp zwei Kilometer weiter ein gänzlich anderes Bild: ukrainische und belarusische Flaggen, dazu die weiss-blau-weisse Fahne der russischen Opposition. Ernste, zuweilen schmerzerfüllte Gesichter. Die Menschen hier wissen ganz genau, zu was das russische Regime fähig ist – entsprechend deutlich sind auch ihre Forderungen: «Sieg der Ukraine, Freiheit für Russland!» Auf die Idee, die Nato sei an Russlands Krieg schuld, würde hier wohl niemand kommen. Aus ihrer Sicht ist das Schicksal von Russland und Belarus eng mit dem Kriegsverlauf in der Ukraine verknüpft.

Auf den Boden haben Aktivist:innen mit Kreide Hunderte Kreise mit Jahreszahlen gemalt und je eine gelbe Tulpe dazugelegt: Jeder Kreis steht für ein im Krieg getötetes Kind. Rund 200 Leute sind dem Aufruf des Vereins «Russland der Zukunft» an den Bürkliplatz gefolgt, der allergrösste Teil aus der Diaspora. Entsprechend sind auch die Redebeiträge auf Russisch, nur Ausschnitte werden für die paar anwesenden Schweizer:innen übersetzt. Einer der Redner:innen macht eine klare Ansage zu den hierzulande lagernden Oligarchengeldern. «Wir werden den Dieben in der Schweiz das Geld wegnehmen. Ihr werdet nicht mehr sicher sein!»