Auf allen Kanälen: «Vielleicht sind wir wie eine Band»

Nr. 39 –

Die Website «splatz.space» erprobt neue Formen, über Kultur zu sprechen.

verpixeltes Logo eines Tiers

Man könnte Gessica Zinni ewig zuhören – wenn sie erzählt, wie «chotzig» es war, in einem Appenzeller Ort aufzuwachsen, der «von oben wie ein Polyp» aussieht, wie sie in der Worshipband einer Freikirche erste Gehversuche als Musikerin machte und mit ihrer Schwester «geschlotet und geweint» hat, als Kurt Cobain starb, wie Lee «Scratch» Perry zum Taufpaten ihres Soloprojekts Taimashoe wurde, als er an einem Festivalauftritt immer wieder von sich gab: «Schubidu, tie my shoe.»

Wobei «zuhören» nicht ganz stimmt, denn Zinni erzählt diese Geschichte in einem Text. Doch dieser handelt nicht nur von künstlerischer Dringlichkeit und einer aufregenden Biografie, sondern bringt auch mit seinem Sound die Musikerin selber zum Sprechen. Zinni erzählt in der Ich-Form, sorgfältig und detailverliebt aufgeschrieben vom Berner Popjournalisten Benedikt Sartorius. Zu lesen ist der Text auf «splatz.space», einer neuen Website, die schon darum so frisch wirkt, weil hier ein Schreiben über Kultur erprobt wird, das sich um gängige journalistische Formen foutiert.

Auch das Scheitern

Lanciert wurde «splatz.space» im April, seither kommen tropfenweise neue Texte hinzu. Menschen erzählen darin von ihrer Arbeitsweise, von der Organisation eines Kollektivs, von Kreativität und vom Scheitern, ausführlich und mit den Wörtern und den Mäandern, die sie gerade nehmen. Mit jedem weiteren Text wächst hier eine Gemeinschaft von Eigenwilligen, Versessenen, Tüftlern und Querschlägerinnen. Viele von ihnen sind Musiker:innen aus dem interessanteren Teil der hiesigen oder der internationalen Musikszene, aber es sind auch Künstlerinnen wie Tine Melzer dabei oder Adrienne Krysl, die Trainerin des Frauenteams des FC  Winterthur.

Bei einem Besuch fallen die leuchtenden, täglich wechselnden Farben auf der Startseite auf, die grafische Gestaltung ist so schlicht wie markant. Fotos gibt es keine, dafür prägt die Seite ein so einfaches wie bestechendes visuelles Element: mit dem Computercursor gekritzelte Zeichnungen, die von den Schreibenden stammen, von Passant:innen an einem Festival oder von den Interviewten selber (ein Glücksfall: Brian Chippendale, Schlagzeuger der avantgardistischen Lärmrockgruppe Lightning Bolt, ist auch ein begnadeter Comiczeichner).

«Ich bin froh um unser Kollektiv», sagt Benedikt Sartorius, «wenn ich die Seite alleine gemacht hätte, wäre das wahrscheinlich nur ein weiterer Musikblog geworden.» Entwickelt haben «splatz.space» neben ihm die beiden Grafikerinnen Katharina Reidy und Meret Gschwend. Reidy hat auch schon Texte für die Seite verfasst, eine klare Arbeitsteilung gebe es nicht, sagt Sartorius, dafür viele Treffen, gemeinsame Abendessen und Feste. «Vielleicht sind wir wie eine Band – eine, die viel ausprobiert, aber nicht ohne Ziel ist.»

So geschehen etwa beim Text zu Zinnis Projekt Taimashoe, den Sartorius zuerst in klassischer Interviewform schrieb, bevor er zum Schluss kam, dass er die Fragen auch einfach rausstreichen kann. Er sei sich sicher, dass in einem halben Jahr die Seite schon wieder an ganz anderen Orten sei, auch dank weiteren Autor:innen; noch stammen die meisten Texte von ihm.

Kein Gegenprojekt

Sartorius schrieb für diverse Magazine und Zeitungen über Popmusik, auch regelmässig für die WOZ, als Redaktor beim «Züritipp» und bis Anfang 2020 beim «Tages-Anzeiger». Seit über sieben Jahren erscheint wöchentlich sein unschätzbarer Newsletter «Listen Up!», in dem er liebevoll und kenntnisreich aktuelle Alben, Konzerte und Texte aus der lokalen und der globalen Popwelt zusammenträgt. Die neue Website versteht er nicht als Antwort auf die Krise des Kulturjournalismus und auch nicht als Gegenprojekt.

Faszinierende Geschichten gibt es auf «splatz.space» schon einige zu lesen. Da ist die Dramaturgin und Regisseurin Eva-Maria Bertschy, die von einer Theaterpremiere im Innenhof eines Klosters in Palermo erzählt, die sich in ein Fest von westafrikanischen Communitys verwandelte; oder Leoni Leoni, wie sie unter akuter Schlaflosigkeit nachts in ihrer Waschküche Songs aufnahm; oder die unglaubliche Space Lady, wie sie auf den Strassen von San Francisco mit ihrer Familie lebte und mit ihrem Keyboard an Songs experimentierte, bevor jemand ein Genre für ihre Musik erfand: «outsider music».

Korrigenda vom 29. September 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion waren wegen eines redaktionellen Fehlers Zitate zu lesen, die leicht verkürzt waren. Wir bitten um Entschuldigung.

www.splatz.space