Staatsrecht: «Das ist eine Destabilisierung»

Nr. 40 –

Die Sicherung der Stromversorgung verlange rasche Massnahmen, findet die Bundesversammlung. Diese widersprächen der Verfassung, sagt der Zürcher Staatsrechtsprofessor Alain Griffel. Er befürchtet einen Schaden für die demokratische Kultur weit über die aktuelle Vorlage hinaus.

WOZ: Alain Griffel, Sie haben am Radio gesagt, Sie hätten nie erwartet, dass sich das Parlament so verhält. Warum ist es doch passiert?

Alain Griffel: Ich gehöre nicht zu jenen Staatsrechtlern, die fanden, die Coronamassnahmen seien rechtlich unzulässig. Denn die Pandemie war eine ausserordentliche Notsituation, das dringliche Handeln war nötig. Aber ich habe den Eindruck, dass Corona im Parlament den Eindruck hinterlassen hat: Man darf jetzt eigentlich alles. Und sogar im Bundesrat: Die Verordnungen zum Notkraftwerk in Birr hätten eigentlich die Feststellung einer akuten Strommangellage vorausgesetzt.

Das Notrecht in der Pandemie hatte zumindest noch eine Verfassungsgrundlage.

Ja. Jetzt foutiert man sich einfach darum. Dass wir möglicherweise im Winter in eine Strommangellage schlittern, ist ja wirklich keine gute Situation. Aber das, was man jetzt auf dringlichem Weg beschlossen hat, wird diesen Winter nichts ändern. Das wird einfach als Vorwand genommen, um «vorwärtszumachen». Ich habe grosse Zweifel daran, dass auch nur eins von den Projekten, die jetzt auf dem Gesetzesweg durchgeprügelt werden sollen, in fünf Jahren schon am Netz ist.

Das bisherige rechtliche System bei solchen Projekten ist zu etwas sehr Komplexem herangewachsen. Weil sich in der Umsetzung viele komplexe Fragen stellen: Man kann nicht mehr wie vor siebzig Jahren mit einem einfachen Beschluss eine Autobahn durch eine Moorlandschaft bauen.

«Die Umwelt­organisationen noch mehr in die Ecke zu drängen, ist sicher Teil des Kalküls.»
Alain Griffel, Professor für Staatsrecht, Uni Zürich

Die Grimselstaumauer im Expressverfahren zu erhöhen, widerspreche dem kantonalen Recht, stand in Berner Zeitungen.

Ja, natürlich. Es widerspricht allem Möglichen. Das Parlament schafft mit seinem Vorgehen ganz viele neue Fragen. Wenn man keine raumplanerische Grundlage braucht: Wer muss dann was wann in welchem Rahmen prüfen, wer ist überhaupt zuständig? Was ist mit dem Gewässerschutzrecht, mit Rodungsbewilligungen und so weiter? Man zwingt die Umweltorganisationen fast dazu, solche Fragen bis vor Bundesgericht zu bringen, damit sie geklärt sind. Das wird sicher nicht zu einer Beschleunigung, eher zu einer Verlangsamung von Bauvorhaben führen.

Die Umweltorganisationen werden noch mehr unter Druck kommen. Man wird ihnen Zwängerei vorwerfen.

Das ist sicher Teil des Kalküls: die Umweltorganisationen noch mehr in die Ecke zu drängen. Weil diese Vorlage Verfassungsverstösse enthält, hätte sie dem obligatorischen Referendum unterstellt werden müssen, für das man keine Unterschriften sammeln muss. Das hat das Parlament jedoch nicht getan. Das ist ein weiterer Punkt, wo das Parlament bewusst die Verfassung umgeht.

 

 

Müsste der Bundesrat das Parlament nicht daran erinnern?

Nein. Das Parlament müsste das selber. Es hat die Aufgabe, die Verfassung zu hüten. Umso mehr, als der Ständerat es in dieser Session gerade wieder abgelehnt hat, die Verfassungsgerichtsbarkeit moderat zu erweitern.

Halten Sie es für Zufall, dass der Verfassungsbruch gerade bei diesem Thema passiert?

Nein. Mit dem Krieg in der Ukraine und der Versorgungskrise ist ein grosser politischer Druck entstanden. Und gewisse Kreise nutzen das schamlos aus, um den Umweltschutz abzubauen.

Auch die SP stellt sich dem nicht entgegen.

Ja. Das erstaunt mich; sie hat bisher doch etwas mehr auf Verfassungstreue und Rechtskonformität geachtet als gewisse andere Parteien.

Wladimir Putin will die demokratische Kultur Westeuropas destabilisieren. Die Schweizer Solaroffensive hat er dabei sicher nicht im Blick – könnte man dennoch sagen, dass der Beschluss in seinem Sinn ist?

Im Endeffekt ist das tatsächlich eine Destabilisierung. Am anderen Ende dieser Entwicklung stehen Länder wie Russland, in denen das Recht seine machtbegrenzende Funktion völlig verloren hat und Spielball der Machthaber ist. So weit wird es in der Schweiz hoffentlich nie kommen, aber es ist ein Schrittchen in diese Richtung. Eine Verfassung dient in einem Rechtsstaat gerade auch dazu, die Macht der Staatsorgane zu begrenzen. Auch die Macht des Parlaments. Eben weil wir in der Schweiz nur eine sehr beschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit haben, haben wir da keine Kontrolle, und das nützt das Parlament seit neustem schamlos aus.

Sehen Sie die Gefahr, dass es bei anderen Themen auch wieder geschehen wird?

Natürlich! Das ist für mich das staatspolitische Hauptproblem. Ich bin überzeugt, dass da ein Kalkül dahinter ist, dass einige Parlamentarier ganz bewusst Breschen in diese Dämme schlagen, die bisher noch einigermassen hielten, damit man sich in anderen Kontexten auf dieses Präjudiz berufen kann: Schaut, dort hat man das ja auch so gemacht. Keine Vernehmlassung, kein Einbezug der Kantone und der politischen Organisationen, keine Abstützung durch eine bundesrätliche Botschaft, alles im Hauruckverfahren, irgendwie dringlich. Da gibt es dann auch einen Gewöhnungseffekt: Warum sollen wir es in diesem Fall nicht wieder so machen? Geht ja, haben wir ja schon einmal gemacht, und ist ja gar nichts passiert.

Es geht nicht mehr nur um Umweltpolitik.

Nein, es ist eine eminent staatspolitische Geschichte geworden.