Durch den Monat mit Nadine Bühlmann (Teil 2): Ist das Unterrichten schwieriger geworden?

Nr. 6 –

Die Basler Primarlehrerin Nadine Bühlmann hat in der eigenen Familie erlebt, wie brutal das System Schule sein kann.

Portraitfoto von Nadine Bühlmann
«Es stecken extrem viele hilfreiche Ressourcen im System – das macht meine Arbeit auch anspruchsvoller»: Nadine Bühlmann.

WOZ: Frau Bühlmann, eine neue Studie Ihres Berufsverbands hat grosse Empörung hervorgerufen: Zwei von drei Lehrer:innen haben in den letzten fünf Jahren psychische oder physische Gewalt gegen sich erlebt. Das klingt nach einem riesigen Problem.

Nadine Bühlmann: Ich kann die Aufregung nicht nachvollziehen. Körperliche oder verbale Gewalt gehört zum Alltag in unserer Gesellschaft dazu. Sie ist kein spezifisches Problem der Schule. Aber klar müssen wir Lehrpersonen damit einen Umgang finden. Meiner besteht darin herauszufinden, wie Gewalt entsteht. Auch das System Schule kann gewaltsam sein: für Schüler:innen und Eltern. Ich habe selber erlebt, wie gewaltsam Schule sein kann, wenn ein Kind nicht in die Schublade passt.

Was ist geschehen?

Meine Tochter ist achtzehn Jahre alt, mein Sohn sechzehn. Mein Mann und ich haben sie beide durch die obligatorische Schulzeit gebracht. Aber wir haben dabei auch erlebt, dass ein Kind nicht mehr in die Schule gehen wollte. Es hatte keine Lust mehr weiterzuleben, weil es die Schule so schrecklich fand. Dafür gab es verschiedene Gründe. Aber wenn ich zurückdenke, wie das System darauf reagiert hat, erschreckt mich das heute noch. Es wurde angedroht, eine Meldung bei der Kinder- und Jugendschutzbehörde zu machen. Das habe ich als krasse Gewalt empfunden.

Weil man Ihnen die Schuld für die Situation gab?

Ja. Man bekommt sehr schnell einen Stempel verpasst und gilt als schwierige Eltern. Das ist sehr schmerzhaft. Eltern wollen eigentlich immer innerhalb des Systems eine Lösung finden. Aber wenn du dann nur Ablehnung spürst, wenn du dich in eine Ecke gedrängt fühlst und mit einem Label versehen wirst, ist das extrem belastend.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Wir konnten unser Kind eine Zeit lang in eine Privatschule schicken, weil wir genug verdient haben. Wir waren sehr privilegiert, dessen bin ich mir bewusst. Das ist natürlich problematisch. Es kann nicht sein, dass sich nur diejenigen aus dem System retten können, die das Geld dafür haben. So läuft das aber heute. Die Bildungsgerechtigkeit ist in unserer Gesellschaft in dieser Hinsicht nicht vorhanden.

Wie hat sich der Konflikt aufgelöst?

Es waren viele Faktoren. Wir sind unter anderem gezügelt. Letztlich sind unsere Kinder wieder in die Volksschule gegangen. Darüber bin ich sehr froh, denn ich bin eine grosse Verfechterin der Volksschule. Wenn wir ein Bildungsticket hätten, wie das andere Länder kennen, und sich Eltern entscheiden könnten, welche Schule sie für ihre Kinder auswählen, wäre das etwas anderes. Dann gäbe es einen echten Wettbewerb zwischen den Schulen, das wäre spannend.

Konnten Sie aus Ihrem persönlichen Kampf etwas für das eigene Unterrichten mitnehmen?

Natürlich. Jede persönliche Erfahrung prägt mich als Lehrerin. Es hat mich sehr darin bestärkt, bei Konflikten nach Lösungen zu suchen, die für alle stimmen. Ich urteile viel weniger schnell.

Sind Sie nie in extreme Konflikte reingeraten?

Konflikte sind normal. Ich muss sie erkennen und verstehen. Muss die Emotionen analysieren. Ist es Wut, ist es Trauer, ist es irgendwas anderes? Dann findet man eine gemeinsame Lösung. Das hat noch jedes Mal funktioniert. Denn darum geht es: Lösungen für die Kinder zu finden. Sie haben sich die Schule schliesslich nicht ausgesucht. Sie haben sich auch das Quartier nicht ausgesucht. Sie gehen hier zur Schule, weil sie hier wohnen. Ich habe mir den Job ausgesucht. Ich habe die freie Entscheidung, ein neues Setting zu wählen, wenn es mir nicht passt. Kinder haben diese Wahl nicht.

Ist das Unterrichten schwieriger geworden, seit Sie angefangen haben?

Ich bin seit über zwanzig Jahren Lehrerin. Es wurde nicht schwieriger. Ich bin viel weniger alleine als in meiner Anfangszeit. Heute erhalte ich enorm viel Hilfe, wenn ich sie brauche. Ich kann psychologische Beratung holen, kann einen Coach beiziehen. Ich habe eine Heilpädagogin, die mich unterstützt, wenn ich bei einem Kind nicht weiterkomme. Ich habe eine Psychomotoriktherapeutin vor Ort, die mich bei motorischen, sozioemotionalen Themen unterstützt. Das gab es alles früher nicht. Ich habe eine Lehrperson, die die Kinder aus der Ukraine beim Deutschlernen unterstützt. Ich habe eine spezielle Therapeutin für Lese- und Rechenschwächen. Es gibt eine Logopädin, die vor Ort arbeitet. Und eine Tagesstruktur, die extrem viel vom Frust auffängt, der in der Schule entsteht. Darüber hinaus gibt es noch einen Schulsozialarbeiter, der mir viel geholfen hat. Und letztlich habe ich eine Schulleitung, die mir den Rücken freihält.

Das System hat schon recht viele Ressourcen.

Es stecken extrem viele Ressourcen im System! Das macht meine Arbeit auch anspruchsvoller, weil ich als Lehrperson viele Fäden in der Hand halten muss. Die Zeit der Einzelkämpfer:innen ist vorbei.

Die integrative Schule steht politisch unter Druck. Doch für Primarlehrerin Nadine Bühlmann (46) geht sie noch viel zu wenig weit. Im dritten Teil spricht sie darüber, warum man Schüler:innen nicht aussondern darf.