Durch den Monat mit Nadine Bühlmann (Teil 3): Haben Sie die perfekte Schule geleitet?

Nr. 7 –

Lehrer:innen und Eltern fordern die Rückkehr zu Kleinklassen. Auch die Basler Primarlehrerin Nadine Bühlmann kritisiert die integrative Schule: Sie geht ihr viel zu wenig weit.

Nadine Bühlmann blickt von der mehrstöckigen Treppe des Schulhauses
«Für mich als Schulleiterin war wichtig, dass die Kinder partizipieren können. Und ich finde, das ist uns gut gelungen»: Nadine Bühlmann.

WOZ: Frau Bühlmann, Sie waren Schulleiterin im Basler St.-Johann-Schulhaus, das eine Pionierrolle bei der Etablierung der integrativen Schule hatte. «Die perfekte Schule» sei das gewesen, war damals in den Medien zu lesen …

Nadine Bühlmann: Eine schreckliche Zuschreibung. Perfekt ist ja schon fast wieder langweilig. Das haben wir nie angestrebt.

Aber haben Sie die perfekte Schule geleitet?

Das weiss ich nicht. Es ist auch nicht wichtig. Im Zentrum stehen die Kinder. Für mich als Schulleiterin war wichtig, dass sie partizipieren können. Und ich finde, das ist uns gut gelungen im St. Johann. Wir haben beispielsweise das Ideenbüro eingeführt: Die älteren Kinder der Schule beraten dort die jüngeren. Es ist ein unverplanter Freiraum, wo die Kinder ihre Potenziale entfalten können. Für mich setzt die integrative Schule da an. Wir formen keine Kinder, wir schaffen eine Umgebung, in der sie sich weiterentwickeln können.

Die integrative Schule erfährt heute viel Kritik, gerade auch von Lehrer:innen selber, die in Basel sogar eine Volksinitiative lanciert haben. Gab es diese Kontroverse nie im ­ St. Johann?

In den neunziger Jahren waren wir eine Pionierschule. Wir wollten zeigen, dass es keine Separierung braucht. Wir haben als Team sehr gut funktioniert, da zähle ich auch Lehrpersonen für Heimatliche Sprache und Kultur, die Schulpsychologinnen und später die Sozialarbeiter dazu.

Aber man konnte nicht mehr einfach ein Kind aussortieren, wenn es nicht in die Regelklasse passte.

Das Unterrichten war schon vor dem Projekt «Modell St. Johann» anspruchsvoll. Die Diversität war enorm. Wir hatten viele fremdsprachige Kinder. Als wir auf das neue Modell umstellten, wurden alle Kinder aus den Klein- und den Einführungsklassen in die Regelklassen integriert. Vor Projektbeginn stellten wir fest, dass in diesen Klassen die «falschen» Kinder drin gewesen waren – vor allem solche mit Migrationshintergrund, die nicht gut Deutsch konnten. Diese Kinder sind sprachlich nur kleine Schritte weitergekommen, weil sie unter ihren Klassenkolleg:innen keine sprachlichen Vorbilder hatten. Die einzigen Vorbilder waren die Erwachsenen. Wir wissen aber aus Untersuchungen, dass Kinder vor allem von Kindern lernen. Verhaltenskreative Kinder zu separieren, funktioniert ebenso nicht. Kinder brauchen gleichaltrige Vorbilder.

Kritik an der integrativen Schule kommt auch von Eltern, die sich Sorgen machen, ihr Kind würde unter den Störenfrieden in der Klasse leiden. Haben Sie Verständnis für diese Ängste?

Es gibt manchmal diese Angst bei Eltern, dass ihre Kinder nicht genügend von der Schule profitieren würden. Aber das ist eine kapitalistische Sichtweise aufs eigene Kind. Die Schule hat nicht die Aufgabe, so viel wie möglich aus den Kindern rauszuholen. Unsere Aufgabe ist es, Kinder zu begleiten, sie ihren Platz in der Gesellschaft finden zu lassen. Sie sollen auch Andersartigkeit erleben dürfen. Wenn Sie Kinder bei uns im Schulhaus fragen, ob es viele Ausländer:innen in ihrer Klasse hat, sagen alle Nein. Auch wenn Sie fragen, ob es Kinder mit Beeinträchtigung hat, verneinen sie. Kinder unterscheiden nicht wie Erwachsene.

Auch die integrative Schule verlangt eine Anpassungsleistung von Kindern. Sie müssen sich in die Gruppe eingliedern.

Ich finde das Wort «Integration» falsch, mir geht es um Inklusion. Ich habe als Lehrerin eine diverse Gruppe mit unterschiedlichsten Bedürfnissen vor mir. Die Gruppe wird übrigens auch divers bleiben, wenn ich anfange zu separieren.

Wie unterscheidet sich inklusiver von integrativem Unterricht?

Ich habe mit der Kollegin, mit der ich eine Klasse teile, in den letzten drei Jahren viel Unterrichtsentwicklung gemacht. Unter anderem haben wir die Räume anders gestaltet. Es sieht bei uns tatsächlich nicht so wie in vielen anderen Schulzimmern aus. Wir unterrichten zum Beispiel auch fast alle Fächer selber. Das schafft eine enorme Ruhe. Weil wir immer da sind – und die Kinder auch.

Und worin besteht nun der inklusive Ansatz genau?

Darin, dass sehr selten alle am Gleichen arbeiten. Wir erarbeiten ein gemeinsames Thema wie etwa Magnetismus. Da forschen wir alle im gleichen Themenbereich. Aber auch dort ist jedes Kind anders unterwegs. Ein Kind hatte vielleicht noch nie mit Magneten zu tun und will einfach ausprobieren, wie das mit Anziehung und Abstossung funktioniert. Ein anderes hat eine Brio-Bahn zu Hause, das kennt diesen Effekt schon, dieses Kind möchte dann wissen, wie ein Kompass funktioniert. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden, wo jedes Kind steht. Und ihm genügend Zeit zu geben, um jede Entwicklungsstufe abschliessen zu können. Jedes Kind hat sein Tempo. Es war immer so und wird glücklicherweise immer so sein, dass Menschen nicht im Gleichschritt laufen.

Im letzten Teil des Februargesprächs bestätigt Nadine Bühlmann (46), was alle immer vermutet haben: Lehrer:innen finden gewisse Kinder unsympathisch.