Film: Vater tanzt ins Nirgendwo

Nr. 8 –

Spätestens seit der Erfindung von Homevideo-Technologie ist eine der typischsten Texturen des Erinnerungsprozesses jene der Pixel, der schnellen Bildverschiebungen, der digitalen Zooms. Manchmal sieht die Erinnerung also aus wie ein Film, und manchmal sehen Filme aus wie Erinnerungen: Informationen sind bruchstückhaft und nicht immer vertrauenswürdig, die Auswahl von Szenen und Momenten scheint nach ungewohnten Kriterien zu erfolgen, die sich nicht unmittelbar erschliessen.

«Aftersun», der erste Spielfilm der schottischen Regisseurin Charlotte Wells, folgt eher solchen emotionalen als narrativen Imperativen. Die elfjährige Sophie (Frankie Corio) und ihr knapp dreissigjähriger Vater Calum (Paul Mescal) verbringen hier scheinbar normale Vater-Tochter-Ferien in einem Resort in der Türkei – ausser dass in dieser Konstellation nie irgendetwas normal ist, auch nicht bei Vätern, die ihr Leben mehr im Griff haben als Calum, oder bei Töchtern, die weniger aufgeweckt sind als Sophie.

Charlotte Wells beschreibt den erzählerischen Zugang ihres Films als «nicht per se autobiografisch, aber gefühlt». Die Grenzen zwischen Erlebtem und Erinnerung sind durchlässig, und über jedem Moment mit den beiden unerklärlich grossartigen Schauspieler:innen schwebt eine deutliche, aber kaum zu benennende Melancholie. Vielleicht liegt das daran, dass diese nicht so sehr der Gegenwart in diesem Ferienresort zu entspringen scheint als vielmehr der Zukunft, in der sich die erwachsene Sophie an die Zeit mit ihrem Vater erinnert.

Ohnehin ist in «Aftersun» nie ganz klar, welche Zeit jetzt die ursprüngliche oder gegenwärtige sein soll. Wahrscheinlich ist es jene, in der Calum selbstvergessen zu farbigen Stroboeffekten ohne Musik, aber laut atmend ins Nirgendwo tanzt, oder jene der wabernden Reflexion im Swimmingpool während Sophies erstem Kuss. Das Schönste an der Wirklichkeit ist immer noch, dass sie dereinst zu Erinnerung wird – und dort frei erzählt werden kann.

Szene aus dem Film «Aftersun»: eine Frau und ein Mann kuscheln auf einer Bank

«Aftersun». Regie und Drehbuch: Charlotte Wells. Grossbritannien 2022. Jetzt im Kino.