Literatur: Einstein als Zweifler

Nr. 9 –

War Albert Einstein, der berühmteste Physiker des 20. Jahrhunderts, ein Suchender? In seinem neuen Roman beschäftigt sich der österreichische Autor Franzobel mit der wahren Geschichte des Pathologen Thomas Stoltz Harvey, der über vierzig Jahre Einsteins Hirn in seinem Keller stehen hatte. Eingebettet in den historisch belegten Plot, erweckt der Autor mit Hang zu skurrilen historischen Stoffen das in Formalin eingelegte Hirn zum Leben und lässt es sprechen. Es verstrickt sich in einen über Jahrzehnte dauernden Dialog mit dem Quäker Harvey, der die grauen Zellen Einsteins von der Existenz Gottes überzeugen will.

«Irgendwie hatte er ja Sehnsucht nach Gott, hat die aber physikalisch nicht in Einklang bringen können mit seinen Erkenntnissen», so der Autor im Gespräch. Das Hirn verteidigt seine agnostischen Thesen und äussert ab und an ganz banale menschliche Bedürfnisse. Um dieses Zwiegespräch führen zu können, verteidigt der Mediziner seinen bei der Autopsie erbeuteten Schatz gegen Einsteins Erben und Nachlassverwalter:innen, bleibt aber die versprochene wissenschaftliche Untersuchung des Hirns schuldig. Mit seiner Besessenheit bringt er zwei Ehen zum Scheitern und verliert gut dotierte Jobs, bis er – schon im Rentenalter – als Hilfsarbeiter in einer Plastikfabrik endet.

Um diesen Roman schreiben zu können, musste der Autor nicht nur die Schauplätze von Princeton bis zum Provinznest Lawrence in Kansas besuchen, sondern sich auch mit Kernphysik und Relativitätstheorie befassen. Für die fiktiven Dialoge griff er teilweise auf reale Schriften Einsteins zurück. Mit gewohnt flapsigen Formulierungen führt uns Franzobel durch die Kosmovisionen der Weltreligionen, die dem sprechenden Hirn auch nicht gewachsen sind, und scheut nicht vor offensichtlichen Anachronismen zurück, um etwa heutige Überempfindlichkeiten auf die Schippe zu nehmen. «Einsteins Hirn» ist eine humorvolle Erzählung, die uns für den unglücklichen Harvey Partei ergreifen lässt. Gleichzeitig bestechen manche Passagen mit Tiefgang, der aus ernsthafter Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen resultiert.

Der Autor liest am Freitag, 10. März 2023, um 20 Uhr im Keller 62 in Zürich. 

Cover des Buches «Einsteins Hirn»

Franzobel: «Einsteins Hirn». Zsolnay Verlag. Wien 2023. 544 Seiten. 29 Franken.