Sachbuch: Die Dialektik zwischen Psyche und Gesellschaft

Nr. 11 –

In einem neuen Gesprächsband erscheint der vor über vierzig Jahren gestorbene Psychoanalytiker Erich Fromm als Mahner für die Gegenwart.

Erich Fromm (1900–1980), der deutsche Psychoanalytiker, ist weithin bekannt, seine Bücher verkaufen sich bis heute weltweit. «Haben oder Sein?» (1976) heisst ein spätes Werk von ihm. «Haben» steht für ein hortendes Besitzstreben, «Sein» für ein sozial bezogenes Handeln. An diesem Buch arbeitete auch Fromms letzter Assistent, Rainer Funk, mit, der bis heute in Tübingen den Nachlass verwaltet und 1999 die zwölfbändige Werkausgabe von Erich Fromm abschloss. Der marokkanische Philosoph Hamid Lechhab wiederum interessiert sich schon seit seinem Psychologiestudium in Fes und Strassburg für Fromm. Er hat mit Funk eingehend über Fromm gesprochen und Schriften von beiden, von Fromm und Funk, ins Arabische übersetzt. Im April 2022 veröffentlichte die marokkanische Tageszeitung «Al-Massae» 23 Interviews, die Lechhab mit Funk zu Fromms Bedeutung geführt hat. Zum 80. Geburtstag von Rainer Funk erschienen die Gespräche nun auch in deutscher – und englischer – Sprache.

Fromms Menschenbild

Seit bald einem halben Jahrhundert vermittelt Rainer Funk also Fromms Herrschafts- und Konsumkritik. «Er tut dies beharrlich, leicht und tiefgründig», erklärt Hamid Lechhab. Fromms Studien seien, wie in China, auch in arabischen Ländern gefragt, zum einen wegen des Stellenwerts der Geisteswissenschaften, zum andern wegen des Freiheitlichen, das in allen Schriften des ursprünglichen Soziologen und Sozialpsychologen aufscheint.

Im Vordergrund der Gespräche zwischen Funk und Lechhab stehen Fromms Menschenbild und sein psychoanalytisches Verständnis, gerade auch im Zusammenhang seiner frühen Werke «Die Furcht vor der Freiheit» (1941) und «Die Kunst des Liebens» (1956). Fromm und Funk interessiert, wie sich die Gesellschaft im Individuum dokumentiert – und umgekehrt. Sie betonen die Dialektik zwischen der menschlichen Psyche und sozioökonomischen Verhältnissen. Menschen sind soziale Wesen. Das ist für Fromm zentral. Er «konnte nur schreiben, wovon er eine eigene innere Erfahrung hatte», so Funk. Mit Sigmund Freud teilen die beiden die Ansicht, dass unbewusste Anteile unser Verhalten prägen. Was wir verdrängen, kehrt oft seltsam verwandelt zurück.

Doch während Freud auf unterdrückte sexuelle Impulse fokussiert, relativiert Fromm diese. Fromm akzentuiert verinnerlichte Erfahrungen sozialer Bezogenheit – und die angeborene «Liebe zum Lebendigen». Im Unbewussten schlummern ungeahnte Potenziale. Seine Vision erinnert laut Funk an die konkrete Utopie Ernst Blochs, der Heimat als Ort verstand, wo noch niemand war. Was ins Bewusstsein vordringen und sich verändern darf, bestimmen indes unsere Sozialität und die Gesellschaft mit. Höher als frühkindliche Einflüsse veranschlagt Fromm spätere Umwelteffekte.

Fromm untersucht unterschiedliche Muster sozialer Bezogenheit. Vom individuellen Charakter unterscheidet er den Gesellschafts- oder Sozialcharakter, der zwischen Psyche und Lebensverhältnissen agiert und uns suggeriert, wie wir denken und handeln sollen. Fromm, der humanistische Sozialist, ist von Karl Marx inspiriert: Das gesellschaftliche Sein bestimmt unser Bewusstsein. In den dreissiger Jahren analysiert Fromm einen «autoritären Charakter», der sich bei Machteliten und ideologischer Gefolgschaft zeigt. «Die Furcht vor der Freiheit» führt dazu, sich zu unterwerfen und autonome Eigenkräfte auf Herrschende zu projizieren. Symbiosen ermöglichen eine symbolische Teilhabe an der Macht.

Konformität gehört auch zum «Marketing-Charakter», den Fromm nach dem Zweiten Weltkrieg diagnostiziert. Forcierte Konkurrenz erhöht eine oft krank machende Rivalität. Menschen kümmern sich um ihre Verkäuflichkeit, haben kaum tiefere Bindungen und wollen scheinbar, was sie sollen: optimal funktionieren. Sie produzieren mit, was sich gegen sie richtet, und verkommen so, entfremdet, selbst zur Ware. Sie legitimieren nukleare Waffen sowie ökologische Bedrohungen. Der Marketingcharakter überlagert den autoritären, der heute allerdings keineswegs passé ist, wie es die aktuellen Kriege bezeugen.

Produktive Eigenkräfte

Funk führt Fromms Studien zum Sozialcharakter fort. Den Rechtspopulismus, der Identität durch Nationalismus und Rassismus sichert, verortet er als «narzisstischen Sozialcharakter». Das Entwerten anderer, ohne existenzielle Abhängigkeit voneinander, kennzeichne die eigene Grossartigkeit; wobei das Idealisieren des Eigenen aus unerträglicher Erfahrung von Selbstverlust und Unwert geschehe, etwa wegen wegrationalisierter Arbeitsstellen.

Auch den Marketingcharakter, den Fromm als erfolgsfixiert typisiert hat, entwickelt Funk weiter: Unter Bedingungen der Flexibilisierung und Digitalisierung trete ein postmoderner «Ich-orientierter Charakter» noch stärker hervor, der «völlig ungebunden selbst bestimmen will». In ihrer viel beachteten Studie «Gekränkte Freiheit» (2022) benennen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey diese Eigenschaft als «libertär autoritär». Wie Funk Lechhab erläutert, will «der entgrenzte Mensch» auch emotionale Reaktionen neu erfinden: Je mehr wir Gefühle verdrängten, die uns spüren liessen, wie begrenzt wir seien, desto grösser sei die Gefahr, seelisch zu verarmen – statt produktive Eigenkräfte zu aktivieren.

Ueli Mäder ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Basel.

Buchcover von «Die Bedeutung von Erich Fromm für die Gegenwart»

Rainer Funk, Hamid Lechhab: «Die Bedeutung von Erich Fromm für die Gegenwart». Zeuys Books. Neuhofen 2023. 108 Seiten. 12 Franken.