Gotthard-Blockade: Ein emotionaler Anstoss

Nr. 15 –

Die «Klimakleber:innen» vom Gotthard waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Am Karfreitag haben sich sieben Aktivist:innen der Gruppe Renovate Switzerland auf die Autobahn vor dem Gotthardtunnel bei Göschenen gesetzt und so den Verkehr blockiert. Die Aktion dauerte rund 36 Minuten, dann waren alle von der Polizei weggetragen. Die kleine Aktion löste ein gewaltiges Medienecho aus – und führte bei Onlinekommentator:innen zu Gewaltfantasien. Die SVP sprach von «asozialen undemokratischen Klimachaoten», ihr Nationalrat Mike Egger von «Klimaterroristen». Kritik gab es auch aus dem links-grünen Lager: Es sei «kontraproduktiv», Leute zu verärgern, die in den Urlaub führen, meinte der grüne Nationalrat Bastien Girod.

Das Empörungs- und Distanzierungsritual ist billig: Alle, die am Karfreitag durch den Gotthardtunnel wollten, mussten sich sowieso auf Staus und lange Wartezeiten einstellen. Tatsächlich, so schreibt es die Urner Kantonspolizei, war der Stau vergangenes Jahr sogar länger.

Die Reaktionen zeugen von einem unpolitischen Verhältnis zur Lage am Gotthard. Der Verkehrskollaps wird als naturgegeben hingenommen, wie Murgänge und Lawinen. Diskutiert wird darüber, wie man den Stau besser managt, nicht, wie man die gesundheits- und klimaschädlichen Autos von der Strasse wegbringt. Und das, obwohl es mit der Bahn eine leistungsfähige Alternative gibt. Laut einer Studie des Bundesamts für Umwelt leiden viele Anwohner:innen der Transitachse – besonders Kinder – unter chronischem Husten und Asthma. Seit 1994 müsste der Bund Alpengebiete vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs schützen und diesen auf ein Mass begrenzen, «das für Menschen, Tiere, Pflanzen sowie ihre Lebensräume nicht schädlich ist». So steht es im Alpenschutzartikel der Bundesverfassung, den die Stimmbevölkerung damals angenommen hat.

Auch um das von ihr gesteckte Klimaziel zu erreichen, macht die Schweiz viel zu wenig. Das verdeutlichen die neusten Zahlen des Bundesamts für Umwelt vom Dienstag: Noch immer ist das bescheidene Reduktionsziel für 2020 nicht erreicht. 2021 wurden gar 1,3 Millionen Tonnen mehr CO₂ ausgestossen als ein Jahr zuvor. Besonders miserabel steht die Schweiz beim Individualverkehr da.

Doch nicht nur darauf wollte Renovate Switzerland mit der neusten Aktion hinweisen. Die Gruppe hat auch einfach realisiert, dass eine Blockade vor dem Gotthardtunnel sehr viele Emotionen auslöst. Sie fordert vom Bundesrat angesichts der Klimakrise Notstandsmassnahmen und als Erstes einen Notfallplan zur thermischen Sanierung aller Gebäude bis 2035.

Laut dem kürzlich veröffentlichten Synthesebericht des Uno-Klimarats müssten die Treibhausgase noch in diesem Jahrzehnt stark und schnell gesenkt werden, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Die Möglichkeit abrupter und irreversibler Veränderungen steige mit jedem Zehntelgrad Erwärmung. Über drei Milliarden Menschen lebten in besonders gefährdeten Gegenden. Dürren und Überschwemmungen würden stark zunehmen. Man muss jetzt handeln. Nichthandeln tötet und führt in die Katastrophe.

Der zivile Widerstand von Renovate Switzerland ist deshalb berechtigt. Dass man damit Leute nervt, gehört dazu, schliesslich soll Druck aufgebaut werden. Ausserdem will die Gruppe Aufmerksamkeit gewinnen und wachsen. Dabei helfen den Aktivist:innen ihre Gewaltfreiheit und ihr Ansatz, mit vollem Namen hinzustehen.

Dass die Aktion die Abstimmung über das Klimaschutzgesetz vom 18. Juni negativ beeinflussen könnte, ist kaum vorstellbar. Im Gegenteil: «Renovate» macht die Dringlichkeit der Klimakrise deutlich und wirkt dadurch für das Ja-Lager mobilisierend. Eine Annahme des Gesetzes wäre ein wichtiger Schritt, aber längst nicht genügend. Ziviler Widerstand wird weiter nötig bleiben.

Die Schweiz muss zudem mit zusätzlichen Milliarden Franken pro Jahr Klimaschutzmassnahmen in den Ländern des Globalen Südens fördern – dort fehlen die Mittel. Und sie muss die Finanzierung klimaschädlicher Projekte durch Schweizer Banken verbieten. Das Beispiel des Alpenschutzartikels in der Bundesverfassung zeigt: Mit neuen Paragrafen allein ist es nicht getan – sie müssen auch durchgesetzt werden.