«Anatomie d’une chute»: Die Welt ist alles, was der Fall ist

Nr. 45 –

Wenn Forensik und Psychoanalyse bei der Wahrheitssuche nicht mehr weiterhelfen: Der Siegerfilm von Cannes besticht mit einer überirdisch guten Hauptdarstellerin und einem Kind, das auch nicht ganz von dieser Welt scheint.

Milo Machado Graner als Daniel im Film «Anatomie d’une chute»
Der beinahe blinde Zeuge bringt das Verfahren zum Kippen: Milo Machado Graner als Daniel. Still: Les Films Pelleas

Alles stürzt ins Chaos: der Fall, das Paar, die Wahrheit, am Ende gar der Hund. Etwas Halt finden wir noch in den milchig getrübten, oft verzweifelten Augen des elfjährigen Daniel, der wie ein halb blinder Seher auf die sich ausbreitende Wirrnis starrt. Halt? Mit «Anatomie d’une chute» hat die Französin Justine Triet einen Film geschaffen, der uns immer wieder den Boden unter den Füssen wegzieht; ein Gerichtsdrama, das gekonnt Spannung aufbaut wie ein Thriller; eine aufwendige Untersuchung eines verdächtigen Todesfalls, die zum Psychogramm einer zerrütteten Ehe wird.

Die doppeldeutige deutsche Übersetzung des Filmtitels ist ausnahmsweise aussagekräftiger als das Original. «Anatomie eines Falls» verweist auf den Fall als Gerichtsfall, aber auch als Fenstersturz. Und in diesen Fall und Sturz sind wir Zuschauenden immer auch direkt involviert. Was glauben wir? Wem glauben wir? Und warum?

Hineinsteigern in den Hass

«Von einem Scheissloch zum nächsten» sei sie für ihn gezogen, wirft Sandra Voyter (Sandra Hüller) ihrem Gatten Samuel (Samuel Theis) in einem heimlich aufgezeichneten Ehekrach vor. Er wiederum unterstellt ihr unerträgliches Dominanzgebaren. Sie bestimme alles: jede Diskussion, wie gekocht werde, sogar im Bett laufe alles nach ihren Vorgaben. Sandra und Samuel haben riesige rhetorische Kanonen aufgefahren, mit denen sie auf ihre bis zur Unkenntlichkeit entstellte Beziehung ballern, sich immer weiter in den Hass hineinsteigern, inklusive Handgreiflichkeiten.

Kurze Zeit später ist Samuel tot. Der sehbehinderte Sohn Daniel findet seine Leiche im blutgetränkten Schnee vor seinem Haus in den französischen Alpen. Klar ist einzig, dass Samuel aus einem der oberen Stockwerke gefallen und an einer Kopfverletzung gestorben ist. Aber war es ein Stoss im Streit, ein Mord, ein Unfall auf der Dauerbaustelle dieses kalten Hauses, oder ist er aus einer depressiven Verzweiflung selber gesprungen?

Es ist kein Zufall, dass zwei Hauptfiguren und ihre Darsteller:innen hier die Vornamen teilen. Auch dass man sich beim Nachdenken über den Film für einen Moment nicht mehr erinnern kann, ob nun vor Gericht ein Videoclip des Streits oder bloss eine Tonaufnahme abgespielt wurde, gehört zum Konzept. Triet spielt mit uns, verwischt Spuren zwischen Realität und Fiktion und zeigt zugleich Grenzen auf. Mit den gleichlautenden Vornamen signalisiert sie eine Verkettung von Figuren und Schauspieler:innen. Hätte eine andere als die furiose, furchtlose Sandra Hüller dieser Sandra Voyter die Ruhe, Glaubwürdigkeit und den entscheidenden Rest Unergründlichkeit verleihen können? Sicher ist: Jede plumpe Eindeutigkeit würde den Film umgehend zum Implodieren bringen. Wenn Sandra Voyter/Hüller sagt: «Ich bin kein Monster», will man es ihr glauben. Aber nehmen wir ihr auch den Satz «Ich bin unschuldig» ab?

Zusätzliche Komplikation: «Anatomie d’une chute» handelt von zwei Schriftsteller:innen, die berufshalber ihr Leben zu Literatur verarbeiten. Sie macht das höchst erfolgreich, er leidet unter einer Schreibblockade und schickt bloss Tonaufnahmen aus dem Familienalltag an seinen Verleger, wohl in der Hoffnung, nicht ganz in Vergessenheit zu geraten. So entstand auch das Audiofile des hässlichen Streits, das Sandra vor Gericht in Bedrängnis bringt. Mit dem Mut der Verzweiflung behauptet sie: Das ist nicht die Wahrheit. Kühn hinterfragt sie die vermeintlich unzweideutige Evidenz aufgezeichneter Stimmen und Sätze. Eine Momentaufnahme sei das bloss, kein Abbild der Wirklichkeit.

Ihr Gegenspieler, der Staatsanwalt, wiederum gebärdet sich als Literaturwissenschaftler. Um ihr einen Mord anzuhängen, liest er vor Gericht aus einem älteren Roman von Sandra Voyter vor, in dem eine Nebenfigur Tötungsabsichten gegen ihren Mann hegt. Aber wo kämen wir denn hin, wenn literarische Fantasien als belastbares Beweisstück in einem Mordfall zugelassen würden? Wenn eine Autorin für ihre erfundenen Figuren haftbar gemacht werden könnte? Die Richterin zögert, weist den lauten Ankläger schliesslich zurück.

Experiment mit Hund

In seiner unprätentiösen, unaufgeräumten Art scheint der Film ganz aus dem Alltag geschnitten. Und doch spukt da immer wieder eine andere Sphäre dazwischen. Mit rein rationalen Mitteln lässt sich dieser verknotete Fall jedenfalls nicht lösen. Auch Sohn Daniel versucht zuerst, der Wahrheit mit einem quasi-wissenschaftlichen Experiment auf die Spur zu kommen, setzt sogar das Leben seines geliebten Hundes aufs Spiel.

Doch erst die Geschichte, die Daniel am letzten Prozesstag im Zeugenstand erzählt, bringt das Verfahren zum Kippen. Er schildert und interpretiert eine Erinnerung an seinen Vater, in der er alle Brechungen und Ungewissheiten des Falls, aber auch seine einfühlsamen, kaum noch kindlichen Beobachtungen zu einer plausiblen Verkettung von Motiven zusammenreimt. Die Fragilität der Wahrheit bleibt dabei in jedem Satz spürbar. Und doch lassen wir uns mitziehen von der Überzeugungskraft dieses beinahe blinden Zeugen, der nicht mehr ganz von dieser Welt zu sein scheint.

«Anatomie d’une chute». Regie: Justine Triet. Frankreich 2023. Jetzt im Kino.