Lyrik: Nacktes Leben: Wer kann wen retten, ohne sich zu opfern?

Nr. 23 –

Illustration von Katharina Reidy

1  Ana

Nur die Wörter wechsle ich wie
Unterwäsche
sie lagen lang unter den Rippen
erfroren
mickrig
es war nicht so dass ich sie nicht wollte
ich kannte sie nicht
rechtzeitig am richtigen Ort
frei zu sprechen
jetzt sagen sie
schaut das ist die
und sehen nicht wie
ich das erste Mal
mein eigenes Kind Wort
Wäsche
wasche

2

Eurydike
unausweichlicher Stolperkörper
vergeben
vergiftet
versunken im Hades
mit seiner Stimme
der Hoffnung aufgewacht
endgültig verloren zurück
gesandt in die doppelte ­Dunkelheit
aber ich sage es euch
wir trafen uns im Spanischen Bürgerkrieg
vor dem Tag als ich die Hand verbrannte
sie sprach mit meiner Stimme
sie war sehr schön
skulpturiert
Meine Mutter
Mein Vater
liessen mich nicht
auf dem Schlachtfeld
Freiheit suchen

3

Ich komme
aus leeren Orten
in welchen
ich
ahne
Glanz
oder
Anwesenheit
mehr oder weniger
Handvoll
(ja Handvoll)
Hoffnung
(eingebildete – ich weiss)
erblinde fast von
Sehnsucht
bei dir zu sein
ein Augenblick
repariere verletzte Hand
wie tief gepflügtes Feld
belasse
Samen
soll mich verbinden
es wird gesagt
es ist kein
Böses nur für Böse da
nije svako zlo za zlo

4

Es hat mich ein Niemand
vergewaltigt
ich bin Vorschatten
eines grossen Schattens
den meine
Gedanken wie ein Kleid tragen
während ich
dem Horizont
gestrigen Schmerz ausziehe
schau
meine Hände sind nicht meine
wie kann ich auf den Fingern die Weichheit fühlen
bitte nicht
es gibt Fragen von welchen man besser
aus Laune heraus
katapultiert sei

5

Es braucht nur
die Strasse zu finden ich gehe in beliebige Richtung werfe ­Sehnsucht weg
wie Rest der Last
damit sie mich nicht überbelastet
in Unzeiten
ich bin nicht dieselbe aus ­weichem Herz
unscharfe Zunge
verstreue Zelte
(sind nicht alle himmlisch)
retuschiere Foto des Geliebten
damit ich ihn verlieren kann
wie er mich

6

Dass ich Fuchs bin
erfuhr ich per Zufall
als es keine Zweifel gab
erst dann ekelte mich
mein Hundeleben
ich wische meine Tränen
schleckte an der letzten ­Mahlzeit
wievielmal muss ich
von einem zum andern hinein hinaus gehen
damit aus
schrägem Vogel
richtige Frau wird

7  Grossmutter

Wir kamen aus den ­Häusern
es war Spätherbst
Jesustag 1942
wie man so zu sagen pflegte
Zeit war arm und unglücklich
Jemand unter uns zeigte auf ihn
mit dem Finger
(Chor sang: wir sind immer für euch da)
Frauen sagten
sie ist unter uns
Wir beten dich an
nimm Jela zum Leben mit
Sie ist eine von diesen Frauen
hinter welchen sich ­niemand umdreht und dann
stirbt

8

Mein Körper ist
aufgeklebter
Grundriss
der Berührbarkeit
Inversion
gemacht wegen dem oder den
ich habe viele Möglichkeiten zu
liken
meine
Schwachheit auf der Säule der Scham

9

Es fehlt ihr schwer
gehe in andere Richtung
borge Haselnüsse aus den ­Haaren isst
den welche überflüssig scheinen
bin nicht benutzt
stimme mein Schrei mit ­Schicksal
Schrei aus der Seelenunruhe
Jela hat ihren Mann verloren

10

Schaut her
das ist die Wunde der Hand
der Wirklichkeit
sie ist zugedeckt
unausgereift
es gab nicht die Milde
nicht Empörung
ich versteckte mich unter dem Lächeln
ernährte mich mit Schweigen
deckte mich mit
es vergeht
es vergeht
wenn mir
andere die Augen
unter der Haut
sieht

11

Nach der Revision
Fall – ich
ist kein Stein
auf dem Stein geblieben
Vergangenheit ist kein Zustand
wir sind so nah
dass es nicht weiter geht
von einem zum andern hinein hinaus gehen
damit aus
schrägem Vogel
richtige Frau wird

12

Ich bin Herrscherin der Spiele und Spiegel
ich bin Fuchs ohne Schwanz
Storch ohne Schnabel
ich bin Anfänger Buch für schreckliche Prüfung des Unwissens
ich kann mit dem Fingerabdruck
den Transfer Immobilien und Mobiliar stoppen
wer immer bei mir anklopft ich mache die Türen nicht auf
wer sucht der ist nicht würdig unter meinen Schirm zu kommen
ich bin das schlechte Gewissen (nicht gebraucht)
ich bin Erkenntnis überstreckt
meine Aktien kotieren schlecht
ich bin ja Herrscherin der ­Hochspannungs-
Leitungen
unterjuble dem Vogel aus Wachs Flügel
ich trete aus Schemata nackt hinaus
weil
ich halte von allem
nichts

13

Wir befinden uns jetzt auf dem Territorium
Ort ist so
wie man ihn sucht für die ­Verfilmung
mit Eurydike als Pornostar
ihre Haut in Lichtkontrast

14  Wally ­Neuzil

Farbe ist Hysterie des Lichts
erröte
Rot geht durch dein Auge
eilt in die Gegend
der Leiste
dann zeigt sich an Ohren
welche erst die Hitze spüren dann
schauen wir beide
auf die Erde kurz
soll nur dieser Moment
erbleichen

15

Ich stoppe
um Verbrennung einzuatmen soll mir der Geruch
Erinnerung
ohne Zeugnisstützen
nur so
hereinfallen in den Strudel der Wünsche
sollst mir Türen öffnen hatte geschworen
ich habe dich gekämmt
vor dem Abschied
Hier ist Schauplatz
die wichtigen Ereignisse sagte ich bettelnd kniend an den
flachen Gräbern
ich bleibe am Tatort
weine nicht singt ein Vogel
aus ihrer Perspektive ist Träne
Wasser des Lebens

16

Hier endet die Wüste
Kontinente haben sich ­verschoben in dem Moment
der Aversion gegen ­Prophezeiungen
Wie schön ist es
vor und hinter sich nichts zu sehen
Gefühl der Befreiung aus ­Attrappe der zeitlosen ­Geschichte
wir sind Zeugen
der Unbrauchbarkeit Gottes Kalkulationen
ich renne weg
es ist wahr
ich renne weg
laufen ohne Wunsch
ich habe alles abgeworfen
aber wie bleiben wo du bist
wenn du nie gesehen hast
wo du bist

17  Ana zu ­Ingeborg Bachmann

Tränen sagen sie
bringen Erleichterung
von was sagen sie nicht
Zunge hat sich verbogen wie Nägel
dein Fleisch ist geröstet
durch Abtrennung von ihm
du adaptierst eigenen Mythos
in welchen der Verschwörung
einziges Schlupfloch sei
Singe dort wo du bist
sei in jenen Wassern wo Schiffe versinken
du weisst es
klug wie du bist beweinst du
jene welche du in den Bauch der Haustiere geworfen hast
bitte bieg mich übers Glücksknie
damit ich mich
erheitere an eignen Illusionen

18

Bitte
verzweifle nicht
obwohl du nicht weisst
worüber ich rede
sei genau

19

Warum Simone Weil die ­mystische Ekstase der ­Schönheit gebraucht
hat?
Um rational zu beweisen und zu erweitern
ihr Hirn zu nähren welches ­austrocknet ohne Essen
Verbundenheit mit anderen ­Wesen welche sie braucht
um Wahrheit zu bekunden
wie kann man eigenem Erleben glauben und die Verbindung mit der
realen Welt erhalten
(damit experimentiert auch ­Marina Abramović)

20

Fälscherin der nicht ­geschriebenen Geschichte
Vorführerin in etwas was es nicht gibt
Gedichte aus Zukunft
ausbreiten
eine andere Ebene des Du
körperlose Simone
gehen wir hinaus in die Welt hinter den Ozeanen
gehen wir hinaus in die Welt der
Erzählungen welche sich ­erwärmen mit guten Lügen
gehen wir hinein in die Welt der Geräusche
gehen wir dort
wo noch was wartet

21  Ana

Ich war in dem Haus
sah eure Körper sich bewegen
du fragtest
was ist los
während in mir alles versteinert
und immer wieder die Träume
du liebst mich
es ist Betrug

22

Das ist meine Geschichte sagt Ana
in der Mitte einer Nacht als ­meine Mutter hinter der Wand geschlafen
zur gleichen Zeit sich verliebt hat
das werde ich später erfahren
ich verpacke diese Nacht in die Folie
von dem was ich heute weiss
WomenIrrhaus
einen Mann aus seiner Familie herausziehen
du hättest um mich gekämpft wie Orpheus
ich verwandle mich wieder in mich selbst
diese welche es nicht gab
meine Sprache kommt aus ­anderen Mündern
können andere nachholen
was wir selbst nicht hatten
wir werden getäuscht
aber ein bisschen zu viel gesagt
Analphabetismus schützte
etwas verhaftet unter ­Umständen
wie wir alle

23  Ingeborg Bachmann

Liebe ist das verderblichste Gut
wir sind in Körpern gefangen
an die sie sich kurz erinnern
die dunkle Seite der Welt
ich sehe wie der Richter ­Eurydike fragt
er hat meinen Traum benutzt
ich habe nicht darauf gewartet
dass er das tut
mich vergessen

24

Tägliche Nachrichten die jeden kalt lassen
kommen wir zu Orpheus
zu Anima und dem Bild eines männlichen Gottes
er war am Rande des Glücks
Glück wird durch die Sehnsucht des Herzens und des Körpers
begründet
Götter im Spiel
sind gleich wie Menschen
nur etwas stärker
Schauen wir uns Orpheus an
die Bedingungen seiner ­Erziehung
Idee
blickt auf die Welt in der immer etwas Seltsames passieren kann

25  Grossmutter

Auf dem dlan
auf der Hand
liegt nur eine vage
Vermutung
ich sei
ohne Wiedersehen zu sagen
vorbei gekommen
(zum letzten Mahl)
Wildschweine
lieben Wasser
auch ihre Kleinen
aber es erübrigt sich zu reden in Rätseln
Klarsicht
folgt
auf mystische
Ernüchterung

26

Während ich schlafe
baut im Kopf Obdachlosigkeit
weiter ihre
Abstecher
das Geflüsterte wahre
umworbene
schmilzt wie Zukunft zu
dünnen Streifen
weder Natur noch Mystik setzen sich
in dein Herz lang
sie verlassen ihre Bestimmungen mit jedem
Aufwachen
und sag mal
wird dich Nüchternheit in ­Anbetracht
der Abreise
noch aufhalten

27

Und als ich durch ging
durch bekannten Schmerz
und lebendig aufwachte
das Herz wurde zubetoniert
vorübergehend
Freude
übersprang von
Pupillen des Hundes
welcher mir die Beine leckte
zu Orpheus

28  Ana

Ich wasche meine Kleidung mit etwas Seife
ich werde auch gross
ich werde eine Uhr tragen
Stollen frisieren
auf solche
Haare sprühen
mit einem Lack der wird
rote Augen
voller Tränen
weil es Milch für mich ist
meine Kinder werden benannt
aus dem Radio
Jovanka und Josip
und überall reisen

29

Gehabe ist alles was ich habe
Erbin von leeren ­Versprechungen
ich habe noch etwas Vorrat
wird genug sein bis
allgemeines Desaster
wenn ich ohne böse Geister bleibe
(das darf ich nicht mal denken)
vielleicht wechselt meine ­Kleider eine
kommende Hoffnung
mit dem Vorrat an
ausgeliehenen Träumen

30  Wally Neuzil

Wünsche
ich wäre Jemandes
Ausnahme
erstes Glied in der Kette
damit er mich befreit von Angst schreiben
ich habe ja meine beweglichen Brücken
über mich kann man nicht leicht
übergehen
(kalt und ruhig)
Wenn nur derjenige käme ­welcher
nicht
in der Windrichtung
tanzt

31  Ana

Alles ist am richtigen Platz
ich packe mich nicht aus
wie ich mich heute hinlege
so decken sie mich zu
die grosse Gabe der Freude
kam in mein Haus
ich habe grosse Furcht
ob ich geboren bin oder sterbe
entschlossen ein für alle Mal
ich zu sein

Auf der Suche nach dem Glück

Dragica Rajčić Holzner, geboren 1959 in Split, lebt als Autorin und Dozentin für literarisches Schreiben in Zürich und Innsbruck. Sie schreibt Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke, hat zahlreiche Bücher publiziert und Preise gewonnen. Ihre lyrische Sprache bezeichnet Rajčić Holzner selber als «bewusstes Gastarbeiterdeutsch».

In ihrem Gedicht «Nacktes Leben» lässt sie Frauen sprechen, die in unterschiedlichen Kontexten nach Glück suchen. Im Zentrum steht Ana Jagoda, die fiktive Heldin aus Rajčić Holzners 2021 erschienenem Roman «Liebe um Liebe». Jagoda ist knapp dem Tod entgangen und lebt in einem «WomanIrrhaus». Hier ist sie umgeben von der Autorin Ingeborg Bachmann, von Wally Neuzil, die für Egon Schiele Modell stand, sowie von Rajčić Holzners Grossmutter, deren Stimmen wir auch hören.