Krawall in Lausanne: Was war da los?
Am vergangenen Samstag begingen in der Innenstadt von Lausanne rund hundert Jugendliche Sachbeschädigungen. Sind die Unruhen aus Frankreich jetzt in die Schweiz übergeschwappt?
Anscheinend haben die rund hundert Jugendlichen, die am Samstagabend durch die Lausanner Innenstadt zogen, keine Parolen skandiert, keine Transparente hochgehalten, kein Communiqué veröffentlicht. Da waren nur Wut und Zerstörung. Die Gruppe lieferte sich Scharmützel mit der Polizei, versuchte, Geschäfte zu plündern, und angeblich flog sogar ein Molotowcocktail. Schliesslich wurden sieben Personen verhaftet, sechs davon sind noch minderjährig.
Die Faktenlage ist dünn. Scharfe Analysen liessen trotzdem nicht lange auf sich warten. Die NZZ etwa urteilte sogleich, dass nichts an diesen Unruhen «politisch» sei. Es handle sich vielmehr um einen «dekadenten und primitiven» Zeitvertreib. Die Stadtpolizei von Lausanne antwortet der WOZ auf Anfrage, sie teile die Analyse, wonach dieser Protest keinen politischen Hintergrund gehabt habe. Ihr politischer Verantwortlicher, der Stadtrat Pierre-Antoine Hildbrand, befindet, es habe sich um «wilde Kriminalität» gehandelt.
Rechte Instrumentalisierung
Die Rechte machte sich sogleich daran, die Unruhen zu instrumentalisieren. Schon am Sonntag veröffentlichte die kantonale Sektion der SVP eine Medienmitteilung: Sie warb für die neue Volksinitiative zur Migrationsbegrenzung, die die Mutterpartei erst am Tag zuvor gestartet hatte, und machte die Linke wegen ihrer Polizeikritik für die Ausschreitungen verantwortlich. Dem pflichtete die Waadtländer FDP-Präsidentin, Florence Bettschart-Narbel, bei: Teil des Problems, sagte sie in den Medien, sei ein Diskurs, den sie als «anti-flics» (polizeifeindlich) beschrieb.
Schön wärs. Zur Erinnerung: Vor rund zwei Wochen wurden vor dem Bezirksgericht Lausanne sechs Polizisten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung an Mike Ben Peter im Februar 2018 freigesprochen. Den Freispruch forderte am Ende auch der Staatsanwalt, der eigentlich für die Anklage verantwortlich war. Die Polizisten hatten beim Einsatz gegen den Familienvater aus Nigeria massive Gewalt eingesetzt. Der Vorfall löste in der Waadt Strassenproteste aus. Und auch der possenhafte Prozess sorgt für heftige Kritik.
«Vor allem aus der Perspektive rassifizierter Personen löst dieser Prozess natürlich ein Gefühl von Ungerechtigkeit aus», sagt Samson Yemane. «Diese Wut auf die Institutionen darf nicht unterschätzt werden, sie muss von diesen angehört werden.» Yemane ist Politologe, Kopräsident des Eritreischen Medienbunds und sitzt für die SP im Lausanner Gemeinderat.
Yemane betont, die politische Situation in Lausanne sei nicht dieselbe wie in Frankreich. «Das Land hat ein anderes historisches Verhältnis zur Migration und zur Kolonialgeschichte», sagt er. «Der strukturelle Rassismus in der Schweiz muss anders analysiert und behandelt werden.» Trotzdem: Der Fall Mike Ben Peter ist nur ein Beispiel von Polizeigewalt gegen Schwarze Personen unter vielen, die auch hierzulande immer wieder für Schlagzeilen sorgen.
Ging es um Polizeigewalt?
Waren die Lausanner Unruhen eine Reaktion darauf? «Es wäre anmassend von mir zu erklären, woher diese Wut kam, die die Jugendlichen am Wochenende herausgelassen haben», sagt Samson Yemane. Seines Wissens hat niemand direkt auf den Prozess zum Fall Mike Ben Peter Bezug genommen. «Was hier los war, müssen wir jetzt herausfinden, etwa indem wir mit Jugendlichen sprechen, die teilgenommen haben.»
Der Historiker Nicolas Bancel, Experte für Kolonialgeschichte an der Universität Lausanne, glaubt, dass die Ereignisse in Frankreich den Jugendlichen in Lausanne eine Möglichkeit eröffnet hätten, «etwas auszudrücken, was schwer fassbar ist», wie er gegenüber «Le Temps» sagte. Auch ohne politische Parolen hätten die Unruhen demnach politische Bedeutung. «Wut, Hass, Neid richten sich gegen etwas: den Staat, die Isolation, Horizontlosigkeit, die Diskriminierung», so Bancel.
In den sozialen Medien kursierte ein Aufruf zu erneuten Ausschreitungen am Dienstagabend. Man wolle ein Mädchen rächen, das von der Polizei geschlagen worden sei, hiess es darin. Welcher Vorfall damit angesprochen wird, ist unklar. Am Dienstag blieb es in Lausanne jedoch weitgehend ruhig.