Graphic Novel: Lebensalltag als Kunstwerk
Erinnerungen an die Grossmutter und ein scharfer Blick auf prekäre Haushaltsarbeit damals und heute: «Berta» erzählt einiges darüber, was in der Schweiz als normal galt.

Die längsten Apfelhautschlangen hat sie gemacht und gebratenes Huhn verabscheut – Berta. Ein ganz normales Leben geführt, ein unscheinbares Leben; ein Leben voller Gewalt auch. Nun macht ein Buch sie zur Protagonistin: «Berta» erzählt von dieser Frau, 1884 in eine arme Schweizer Bauernfamilie geboren. Die Mutter stirbt bei der Geburt des fünften Kindes, der Vater bleibt mit den Kindern zurück, ist traurig und müde. Die Behörden nehmen ihm die Kinder weg und versetzen sie in verschiedene Familien, wo sie wohnen und leben, aber vor allem arbeiten. Berta kommt zu einer Tante, bei der sie sich ihren Aufenthalt verdienen muss: Sie steht vor den anderen Kindern auf und geht nach ihnen ins Bett, um in der Küche und im Haushalt zu helfen. In der Oberstufe wird sie in eine andere Familie umplatziert, auch dort arbeitet sie und darf manchmal nicht zur Schule, wenn es viel zu tun gibt. Nach der Schule lernt Berta keinen Beruf, sondern arbeitet weiter als Dienstmädchen, als Glätterin, in verschiedenen Haushalten, bis zur Pension.
Berta ist die Grossmutter der Künstlerin Béatrice Gysin. Sie zeichnet Momente aus Bertas Leben, auch viele Objekte, die in diesem Lebensalltag wichtig waren, und collagiert sie mit Fotografien. Diesen ganzseitigen Bildern sind Texte gegenübergestellt: Bettina Wohlfender hat Bertas Erzählungen und Gysins Erinnerungen in eine einfache, behutsame Form gebracht. So ergeben diese Schlaglichter und Bruchstücke trotz vieler Auslassungen eine ganze Lebensgeschichte. Wie singulär dieses Leben war und gleichzeitig kein seltenes Schicksal in der Schweiz, machen die dazwischengeschobenen Doppelseiten der Historikerin Mirjam Janett deutlich.
Nicht im Verborgenen
In den letzten Jahren sind vermehrt Zeitdokumente von ehemaligen Verdingkindern und auch fiktionale Geschichten über deren Schicksal erschienen; nach und nach entsteht ein Forschungszweig. Erst 2013 hat sich die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Namen des Bundesrats offiziell bei den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen entschuldigt – viel mehr ist auf politischer Ebene bisher nicht passiert. Oft werde in diesem Zusammenhang die Praxis des Fremdplatzierens als «dunkles Kapitel» der Schweiz bezeichnet, schreibt Janett in ihrem letzten, resümierenden Beitrag im Buch: Der Begriff erwecke den Eindruck, man habe nichts davon gewusst, meint sie. Doch Fremdplatzierungen hätten eben nicht heimlich, sondern akzeptiert und in der Mitte der Gesellschaft stattgefunden.
Was Berta passiert, erzählt viel über die Schweiz, darüber, was in diesem Land als normal galt. Kindswegnahmen, Kinderarbeit, die nicht regulierte Arbeit als «Dienstmädchen» im Haus «hoher Herrschaften» waren für ärmere Schichten gang und gäbe; die Ausbürgerungen von Schweizerinnen, wenn sie einen Ausländer heirateten, für die betroffenen Frauen misogyne Realität. Berta verliert ihren Schweizer Pass, als sie den Deutschen Max heiratet, und bekommt automatisch dessen Staatsangehörigkeit. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss Max an die Front – Berta, nun allein in der Schweiz, erhält als Deutsche keine staatliche Unterstützung.
Die Arbeit verschiebt sich
Janett nimmt in ihren kurzen Beiträgen eine klare, kritische Haltung ein. Das ist dort besonders stark, wo sie den Bogen in die Gegenwart schlägt: Als normal gilt heute anderes – nicht, dass es deswegen in Ordnung wäre. Denn die Arbeit, die Berta schon als Kind und Jugendliche, später auch als Erwachsene verrichtete, ist im Verlauf der Jahrzehnte prekär geblieben. Im 20. Jahrhundert, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde diese Haushaltsarbeit – das Putzen, Waschen und Kochen, das Kinderbetreuen – von einer schlecht entlöhnten zu einer unbezahlten, schreibt Janett: Die Hausfrau war geboren.
Auch heute werden diese Arbeiten nach wie vor häufig unter prekären Bedingungen erledigt, nun in vielen Fällen von Migrantinnen. «Frauenberufe» mit geringem gesellschaftlichem Ansehen sind sie trotz sich verändernder Umstände immer geblieben.
Béatrice Gysin und Bettina Wohlfender richten den Blick auf die oft brutalen Erlebnisse, aber auch auf vermeintliche Kleinigkeiten, helle Erinnerungen, von denen die Grossmutter der Enkelin erzählt hat: vom ersten Gugelhopf, den sie essen durfte, oder einem schönen Kleid. Es ist offensichtlich, wie gross der Respekt der Enkelin vor Berta ist. Gekonnt wird die Geschichte der Grossmutter mit Gysins eigenen Erinnerungen an sie vermischt. Wie schön ihre langen Haare waren, dass sie schwarze Schokolade liebte, der Enkelin dicke Strumpfhosen strickte und wie sie immer beim «Eile mit Weile» ausgerufen habe: «Jetz herkulari!» Dieser vom Kindheitserleben gefärbte bewundernde Blick lässt zum Glück keine Verklärung zu. Vielmehr verleiht er Bertas Geschichte eine weitere Facette: dass diese Frau trotz allem ein stolzes, in Teilen gar eigenständiges Leben führte.
