Verletzte Kinderrechte: «Längst nicht alle Familien gelten als schützenswert»

Nr. 40 –

Schweizer Behörden verdingten die Kinder von Armutsbetroffenen, rissen die Familien der Jenischen auseinander und erschweren Migrant:innen bis heute den Familiennachzug: Die Historikerin Sonja Matter über die düstere Schweizer Kindergeschichte und ihre Ursachen.

Jenische Kinder 1987 auf einem Durchgangsplatz in Luzern
Als ethnische Minderheit lange verfolgt: Jenische Kinder 1987 in Luzern. Foto: Keystone

WOZ: Sonja Matter, der Nationalrat möchte den Familiennachzug für vorläufig aufgenommene Personen verbieten, die meist vor kriegerischen Auseinandersetzungen geflüchtet sind. Der Ständerat hat den Entscheid fürs Erste vertagt. Ein solches Verbot würde bedeuten, dass Eltern nicht mit ihren Kindern zusammenleben können. Sie haben sich in ihrer Forschung mit der Diskriminierung von Kindern im Schweizer Sozialstaat beschäftigt. Wie reihen Sie diesen Entscheid in eine historische Perspektive ein?

Sonja Matter: Er steht in einer langen Geschichte der Schweiz, die Kinderrechten wenig Bedeutung zumass. Wobei eine zentrale Weichenstellung dazu erst in der jüngsten Vergangenheit erfolgte, genauer im Jahr 1997: Damals hat die Schweiz zwar die Uno-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, aber mit einem Vorbehalt beim Familiennachzug. Die Konvention verlangt eigentlich, dass die Vertragsstaaten dem Wunsch von Familien, über die Landesgrenzen zusammenzukommen, schnell und in humaner Weise entsprechen sollen. Die Schweiz allerdings hat mit ihrem Vorbehalt die Kinderrechte gegenüber migrationspolitischen Anliegen weniger hoch gewichtet. Schon heute sind die Anforderungen an den Familiennachzug restriktiv. Nun will ihn der Nationalrat ganz abschaffen, was den Schutz der Menschenrechte weiter schwächen würde.

Der Entscheid widerspricht dem Recht auf ein Familienleben, das in der Verfassung wie auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention gesichert ist – aber ebenso den Programmen der bürgerlichen Parteien: «Eltern und Kinder verdienen den besonderen Schutz des Staates», schreibt etwa die SVP. Auch Die Mitte, die sich als Familienpartei versteht, hat dem Vorstoss im Nationalrat mehrheitlich zugestimmt. Ist das nicht ein Paradox?

Diese Praxis findet man im gesamten 20. Jahrhundert: Die Politik betont die Bedeutung der Familie für die Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt. Dass Kinder geschützt in ihren Familien aufwachsen können, wird quasi als ein universeller Anspruch formuliert. Wenn man sich aber die Debatten genauer anschaut, etwa zur Einführung des Familienschutzartikels 1945, dann wird klar, dass längst nicht alle Familien mitgemeint waren. Kategorien von Klasse, Geschlecht, Alter und nationaler Zugehörigkeit bestimmten wesentlich, welche Eltern und Kinder als «schützenswerte Familie» galten – und welche eben nicht.

Sonja Matter

Seit dem vergangenen Sommer ist Sonja Matter (47) Direktorin des «Historischen Lexikons der Schweiz». Das Onlinenachschlagewerk bietet einen fundierten Einblick in alle möglichen Themen der Schweizer Geschichte, aktuell führt es ein Projekt zur Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen durch. Matter habilitierte an der Universität Fribourg zur Geschichte des sexuellen Schutzalters. Sie leitete mehrere Forschungsprojekte, unter anderem zur Geschichte der Zwangsfürsorge im Kanton Nidwalden. Zu Matters Forschungsschwerpunkten gehören die Frauen- und Geschlechtergeschichte und die Geschichte der Armut.

 

Portraitfoto von Sonja Matter

Rhetorik und Wirklichkeit klaffen also auseinander. Mit welchen Folgen?

In den letzten Jahren sind viele Forschungsarbeiten publiziert worden, die auf Verletzungen von Kinderrechten in der Schweiz des 20. Jahrhunderts hinweisen: Die Fremdplatzierungen von Kindern aus Armutsgründen, die oft eine Familienauflösung bedeuteten, gehören dazu. Die Kindswegnahmen bei den Jenischen, mit denen Behörden und Hilfswerke sehr gezielt Familien auseinandergerissen haben. Auch bei Kindern mit Beeinträchtigungen oder bei Zwangsadoptionen wurden gravierende Verletzungen der Kinderrechte sichtbar.

Sie beschäftigen sich in Ihrer aktuellen Forschung mit Fremdplatzierungen in der Stadt Bern in den 1930er bis 1950er Jahren. Dabei wurden Kinder ihren Familien weggenommen und häufig als Verdingkinder – sprich als junge Arbeitskräfte ohne Schutz ihrer physischen und psychischen Integrität – in der Landwirtschaft eingesetzt. Welche Familien gerieten ins Visier der Behörden?

Sehr stark bedroht waren alleinerziehende Mütter, ob verwitwet, geschieden oder nicht verheiratet. Aber auch sogenannt vollständige Familien gerieten ins Visier, wenn sie arm und auf Fürsorge angewiesen waren. Die Platzierungen erfolgten aus wirtschaftlichen Überlegungen, aber auch, um gesellschaftliche Normerwartungen durchzusetzen.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel beschreiben?

Eindrücklich ist die Geschichte einer Frau mit drei Kindern, deren Mann an Tuberkulose gestorben war. Sie lebte in den vierziger Jahren in der Berner Lorraine, damals ein Armenquartier. Die Frau trug eine hohe Arbeitslast, die Fallakten sind hier sehr detailliert: Sie übernahm die Versorgung ihrer Kinder, verrichtete Heimarbeit und bestellte ein Pflanzland. Trotzdem hat es finanziell nicht gereicht, die AHV und mit ihr die Witwenrenten wurde erst kurze Zeit später eingeführt. Sie war auf die Unterstützung der Sozialhilfe angewiesen.

Bei ihren Kontrollbesuchen stellten die Behörden schnell die Frage der Fremdplatzierung. Die Frau wehrte sich, musste aber schliesslich nachgeben, und ihr ältester Sohn wurde zu einer Bauernfamilie gegeben. Aus Sicht der Behörden durchaus ein sinnvoller Entscheid, um Fürsorgekosten zu sparen. Für die Mutter und ihren Sohn war der Einschnitt hingegen extrem: Sie haben sich kaum mehr wiedergesehen. Auch die anderen beiden Kinder wurden später fremdplatziert.

Was hat die Trennung aus Sicht des Kindes bedeutet?

In diesem konkreten Fall wissen wir es nicht. Aber es gibt viele Forschungen, die auf Berichten von Zeitzeug:innen beruhen. Die Traumatisierungen, die darin beschrieben werden, sind vielfach enorm: Die Trennung von den Eltern, die von den Kindern bewältigt werden musste, die hohe Arbeitslast, die sie zu tragen hatten, hinzu kam häufig auch die Gewalt, der sie ausgesetzt waren. Kinderschutzaktivist:innen haben schon seit dem 19. Jahrhundert betont, dass die Kindheit eine vulnerable Phase im Leben eines Menschen ist. Wenn hier Verletzungen passieren, tragen sie die Betroffenen oft das ganze Leben mit. Die Schutzbedürftigkeit des Kindes ist deshalb elementar.

Sie haben eingangs auch die Kindswegnahmen bei den Jenischen erwähnt, die einer eigentlichen Verfolgung durch die Behörden ausgesetzt waren. Derzeit wird auch diskutiert, ob es sich dabei um einen «kulturellen Genozid» handelte. Inwiefern unterscheidet sich der Umgang mit den Jenischen von dem mit Armutsbetroffenen?

Der Begriff der Verfolgung ist schon sehr treffend: Es ging hier um die Bekämpfung einer ethnischen Minderheit in der Schweiz, die man auflösen wollte, indem man ihr die Kinder wegnahm und diese umplatzierte. Das Vorgehen hat im Vergleich mit der Disziplinierung der Armutsbetroffenen noch einmal eine andere, eine rassistische Dimension. Ob es sich dabei um einen «kulturellen Genozid» handelte, prüfen nun Expert:innen in einem Gutachten im Auftrag des Bundesrats.

Die Beispiele, die wir diskutiert haben, spielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch die Diskriminierungen gingen auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter, etwa bei den sogenannten Schrankkindern der Saisonniers, die im Versteckten leben mussten. Welchen Einfluss hatte die Migrationspolitik auf die Missachtung der Kinderrechte?

Auch bei den Saisonniers stellt sich wieder die Frage, wem das Recht auf Familie zugestanden wird: Die Schweiz hat die Arbeitskräfte aus Südeuropa geholt und dabei von ihrem Einsatz profitiert. Gleichzeitig durften sie ihre Kinder nicht mitnehmen, weshalb viele sie in ihren Wohnungen versteckten oder in Kinderheimen nahe der Grenze unterbrachten. Das Saisonnierstatut wurde so zum Angelpunkt für die Diskriminierung von Kindern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Statut wurde zwar mit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 aufgehoben, doch ein mangelnder Kinderrechtsschutz besteht bis heute, wie eben die aktuelle Diskussion um den Familiennachzug zeigt.

Letzte Woche wurde auch eine Studie zu Adoptionen von Kindern aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau veröffentlicht. Von 1973 bis 2002 wurden die Kinder ihren Müttern oft ohne Einwilligung weggenommen. Wie passt das ins Bild?

In der Schweiz entsprachen auch die verheirateten Paare, die keine Kinder haben konnten, nicht der Norm. Eine Adoption bot einen Ausweg, um diesen vermeintlichen Makel zu beheben – zudem erachtete man ein Leben in der Schweiz als per se positiv. Frappant ist, in welchem Ausmass die Schweizer Behörden geltendes Recht missachteten und wie willkürlich sie vorgingen. Die Ergebnisse der Studie sind auch eine Aufforderung, die Kindergeschichte stärker transnational zu erforschen: Die Kinderrechte gelten selbstverständlich überall, und sie können nur in der internationalen Zusammenarbeit gestärkt werden.

Wenn wir alle diese Beispiele zusammennehmen: Kann man von einer düsteren Tradition der Schweiz im Umgang mit Kindern sprechen?

Die zahlreichen Forschungsarbeiten bestätigen zweifelsohne, dass es über all die Jahrzehnte eine Kontinuität des Unrechts gegenüber Kindern gibt. Dies hat bei Betroffenen zu schwerem Leid geführt. Ich finde es in diesem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass die positive Entwicklung, nämlich die Herausbildung der internationalen Kinderrechte, hierzulande wenig bekannt ist. In diesem Jahr würde eigentlich das hundertjährige Jubiläum der «Geneva Declaration of Rights of the Child» begangen, der ersten Kinderrechtserklärung des Völkerbunds von 1924. Doch von einer offiziellen Feierlichkeit seitens der Schweiz gibt es keine Spur.

Wie steht es heute um den Kinderschutz in der Schweiz? Wo fanden auch Fortschritte statt?

Einen wesentlichen Einfluss hatte die Neue Frauenbewegung der siebziger Jahre: Sie hat neue Paradigmen durchgesetzt, etwa bei der Bewertung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Diese wird seither nicht mehr allein auf pathologische Täter zurückgeführt, sondern auch als Folge von hierarchischen Machtstrukturen verstanden. Auch die Unterzeichnung der Uno-Kinderrechtskonvention stellte einen grossen Fortschritt dar, weil sie die Perspektive der Kinder stärker berücksichtigt. Aber noch immer gibt es grosse Probleme: Ein Drittel der Menschen, die heute in der Schweiz in Armut leben, sind Kinder.

Wie steht es um die Sicht der Kinder in den historischen Akten: Hört man da ihre Stimmen?

Sie sind natürlich unterschiedlich dokumentiert. Deutlich hört man sie in den Gerichtsakten, wenn sie direkt als Zeug:innen befragt werden. Interessant ist dabei, dass die Kinder vielfach klar sagen, was sie möchten. Diese Erkenntnis ist bis heute nicht überall in der Politik angekommen: dass Kinder auch eine Stimme haben, die von Gewicht ist. Denn sie können ihre Bedürfnisse durchaus artikulieren.