Durch den Monat mit Ariane Andereggen (Teil 1): Fühlen Sie sich der Mittelschicht zugehörig?

Nr. 36 –

Dass man manche Dinge überhaupt wollen könne, habe auch etwas mit Klasse zu tun, sagt die Künstlerin Ariane Andereggen. In ihrem Film «Klassenverhältnisse am Bodensee» versucht sie, ebendiesen auf den Grund zu gehen.

Portraitfoto von Ariane Andereggen
«Wenn man aus irgendeinem Grund das Einkommen verliert, ist man sofort ‹lower class› »: Ariane Andereggen.

WOZ: Ariane Andereggen, in Ihrem Film «Klassenverhältnisse am Bodensee» gehen Sie auf Spurensuche in Ermatingen im Thurgau, wo Sie zehn Jahre gelebt haben, bevor Sie von zu Hause auszogen. Einmal heisst es, es habe dort niemand mit Ihnen über Klassen sprechen wollen. Wieso?

Ariane Andereggen: Weil restlos alle, auch in meiner Familie, denken, sie gehörten zur Mittelschicht – und darum gehe sie das nichts an. In der Schweiz wird das Thema Klassismus meistens nur im Rahmen von Armutsdiskursen behandelt, und am Ende kommt raus, dass man zu den Armen etwas netter sein soll. Aber ich verstehe es auch – ich bin ja offenbar untere Mittelklasse, das hat mir eine Psychologin vor fast zwanzig Jahren attestiert. Ich kannte den Begriff damals gar nicht. Und da hab ich auch sofort gesagt, nein, sicher nicht.

Weil Sie sich ebenfalls der Mittelschicht zugehörig fühlten?

Wohl am ehesten. Meine Mutter war Sekretärin, und mein Vater arbeitete als Buchhalter in einer Spanplattenfabrik. Aber ich habe damals überhaupt nicht über solche Kategorien nachgedacht. Ich dachte, als junge, angehende Künstlerin spielt das doch keine Rolle. Ich hatte gar kein Klassenbewusstsein.

Und heute?

Die Psychologin hatte wohl recht mit ihrer Zuschreibung. Wahrscheinlich gehören viel mehr Leute der unteren Mittelklasse an, als man denkt. Im Grunde ist das auch eine «lower class»: Leute, die kein Vermögen haben, die kein Haus erben werden, kein Unternehmen, keine Anteilscheine. Zu dieser prekären Klasse können auch Akademikerinnen, Schauspieler, Künstlerinnen gehören. Es kann sich vorläufig wie Mittelschicht anfühlen, aber wenn man aus irgendeinem Grund das Einkommen verliert, ist man sofort «lower class». Eigentlich bin ich aber bis heute von all den Zuschreibungen verwirrt, wer ich sein muss oder darf oder kann.

Was denken Sie denn?

Es gibt nicht so viele Role Models für jemanden, der sich einfach wahnsinnig seltsam findet. Damals wusste ich bald, ich muss weg aus Ermatingen, weg von dieser Form von Thurgau, wo die Buben eine Lehre machen, «etwas Rechtes lernen». Und die Mädchen fliegen aus und werden Krankenpflegerinnen – was total wichtig ist, es gibt dafür bloss keine Anerkennung. Und ein Kanton, der in den achtziger Jahren für Leute aus meinem Milieu nur das angeboten hat – da wusste ich, ich muss raus. Es hat mich dann zur Kunst gezogen, wegen MTV, das damals aufkam. Da gab es wenigstens ein paar Freaks in diesen Musikvideos.

Dann gingen Sie an die Schauspielschule?

Erst mal nicht. Es war ein langer Weg. Die Risikofreudigkeit bei Leuten mit wenig Ressourcen ist ja kaum vorhanden, manche Dinge muss man überhaupt erst wollen können – es wird total unterschätzt, wie schwierig das für ein Aufsteigerinnenkind sein kann. Zum Beispiel in der Hausbesetzerszene, das war für jemanden wie mich ein Riesenrisiko – ich meine, wohin, wenns nicht klappt? Oder dass meine Eltern eine Busse bezahlt hätten – unmöglich. Das waren für mich unüberwindbare Gefahren, die da gelauert haben. Und dann hatte ich auch nicht den ideologischen Überbau, der mir die verkeimte Matratze als Verheissung einer neuen Zukunft hätte erscheinen lassen. Mir ging es darum, für günstigen Wohnraum zu kämpfen, aber wenn ich dann in so einem bierseligen Siff herumliegen muss, mit Männern, die nicht putzen – das war für mich kein Fortschritt.

Verständlich.

Es waren oft Leute, die Ressourcen hatten, die für Freiräume gekämpft haben, wofür ich trotzdem auch sehr dankbar bin. Auf jeden Fall, als ich dann mit 22 an die Schauspielschule kam, war es nicht unbedingt einfacher. Da wurde mir das wieder von aussen angetragen, dass ich ein schräger Vogel sein sollte oder mich schöner anziehen. Diese Zuschreibungen abzulehnen, war schwer.

Woran wurden diese Zuschreibungen festgemacht?

Ich glaube, das war, weil ich meinen Klassenwechsel nicht benennen konnte. Ich war da sozusagen «in transition» und habe mich total uneindeutig verhalten, ich war zum Beispiel kein «Proll», dafür war ich zu unsicher und zu intellektuell. Wenn du der «lower class» zugeordnet wirst, dich aber nicht erwartungsgemäss verhältst, wirkst du extrem schnell arrogant. Im Theatermilieu wäre der «Proll» für mein Umfeld ein begreifbares Stereotyp gewesen: der witzige Bauer, der nicht weiss, wie er gescheit reden soll, oder im Feinrippunterhemd gewalttätig ist. Oder dann die romantisierte Variante, so brechtförmige Frauen, blond, gewitzt, frech, hohe Wangenknochen, dünn, sehen aus wie fünfzehn und spielen wie sechzig – das Ideal des bildungsbürgerlichen deutschen Theaters (lacht). Irgendwie hab ich das nicht hingekriegt. Ich habe mich selbst immer als struppigen Menschen wahrgenommen. Oder, um es positiv zu formulieren: Ich habe mich immer dagegen gewehrt, unsichtbar zu sein.

Die Schauspielerin, Performerin und Filmemacherin Ariane Andereggen (53) findet Schweigen übergriffiger als Labern. Warum, erklärt sie nächste Woche. Ihr Film «Klassenverhältnisse am Bodensee» läuft zurzeit in den Kinos (vgl. «Nebel über dem Bodensee»).