Durch den Monat mit Ariane Andereggen (Teil 2): Warum hassen Sie stille Umgebungen?

Nr. 37 –

Alles super finden ist auch keine Lösung, sagt die Künstlerin Ariane Andereggen. Über prekäres Kunstschaffen und wofür es sich wirklich lohnen würde, Yoga zu machen.

Portraitfoto von Ariane Andereggen
Ariane Andereggen: «Dass man in diesem Land über gewisse Dinge nicht spricht, wie etwa über Klasse, Löhne, Geld, die eigenen Privilegien – das macht mich verrückt.»

WOZ: Ariane Andereggen, was bedeutet es für Sie, prekär zu arbeiten?

Ariane Andereggen: Um künstlerisch etwas zu sagen zu haben, muss ich ein Stück weit unabhängig sein; das heisst, auch mal die Hand beissen können, die mich füttert. Wenig Ressourcen zu haben, kann deshalb extreme Angst auslösen, Nein zu sagen oder überhaupt etwas zu kritisieren. Das soziale Kapital, Beziehungen und Vernetzung, sind im Kulturbereich zentral: Wer will mich weiterempfehlen? In einer vernetzten Welt kann im Prinzip jede Person, die ich kritisiere, meine nächste Arbeitgeberin sein. Und auch im Nicht-Weiterempfehlen können sich Machtstrukturen unbemerkt reproduzieren. Aber alles super finden ist ja auch keine Lösung.

Wie steht es denn um Ihre finanzielle Situation?

Früher gingen wir nach den Proben auch mal in ein Lokal essen. Heute gehts nur noch an den Kiosk um die Ecke. Die Löhne im Kulturbereich haben nicht Schritt gehalten mit der Kaufkraft. Wenn du zwanzig Jahre lang 4000 Franken im Monat für wahnsinnig viel Geld hältst – und das trotz des Vermögenszuwachses seit den Neunzigern bis heute noch tust – na ja: Dann fehlt eben irgendwann das Geld. Ich war zwischendurch privilegiert und konnte an Stadttheatern arbeiten, aber das reissts halt nicht raus. Die Arbeitssuche an sich ist ja auch manchmal wie Theater.

Wieso?

Ein RAV-Berater sagte mal zu mir: «Frau Andereggen, ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie auf Kosten des Staates leben?» Unglaublich. Und ich zu ihm: «Das ist nicht Ihr Ernst? Haben Sie jetzt den Moralischen?» Oder als mir ein Job im Callcenter von Mike Shiva vorgeschlagen wurde! Weil ich ja so gerne reden würde … Aber es ist schon wahr, ich bin eine Labertasche. Dabei wäre ich lieber so wie Cate Blanchett.

Alle wären gerne so wie Cate Blanchett.

Ich meine jetzt gar nicht das Aussehen. Sondern dass ich ganz geheimnisvoll wäre und schüchtern, so, dass die Leute unbedingt herausfinden wollten, was in meinem Innern abgeht. Aber das mit dem Labern – oder umgekehrt mit dem Schweigen – hängt, glaube ich, auch wieder mit dem Prekärsein zusammen.

Wie meinen Sie das?

Im Theater gibt es diese bildungsbürgerliche Vorstellung des leeren Raums, der neutral ist und still, gewissermassen vorsprachlich – von dem aus man denkt und aus dem heraus die Bedeutungen entstehen.

Er ist aber nicht neutral?

Nein, überhaupt nicht. Vor allem auch nicht klassenunabhängig: Er ist ein Privileg, das man sich leisten können muss. Aber in solchen ganz stillen Umgebungen bekomme ich sowieso das Kribbeln. Ich hasse das. Wissen Sie, warum?

Warum?

Wegen des Pathos. Pathos geht für mich einfach gar nicht, und der stille Raum, der wird ganz schnell pathetisch. Da wird ein Einverständnis vorausgesetzt, das eigentlich erst eingeholt gehört. Ich weiss, dass Labern übergriffig sein kann, aber ich finde Schweigen eigentlich viel übergriffiger. Wer labert, macht den Mund auf und macht sich so verletzbar. Wer schweigt, nicht – der verbirgt nur. Das stört mich extrem, dieses Aufmerksamkeitsregime, diese Macht der Stille und des Schweigens auszuspielen. Und dann auch noch so zu tun, als wäre es kein Privileg. «Weniger ist mehr», das stimmt auch hier nicht. Wenn du wenig hast, ist weniger weniger und mehr eben mehr.

Inwiefern ist das Schweigen auch politisch?

Dass man in diesem Land über gewisse Dinge nicht spricht, wie eben zum Beispiel über Klasse, Löhne, Geld, die eigenen Privilegien – das macht mich verrückt. Die Probleme gehen ja nicht weg, wenn man nicht über sie spricht, im Gegenteil. Oder auch das: Meine Urgrossmutter, die aus Italien stammte, verbot meinem Grossvater, Italienisch mit ihr zu sprechen, aus Angst vor Diskriminierung. Obwohl diese Leute so viel gearbeitet haben für den Wohlstand hier. Und dann werden diese Lebensrealitäten wiederum geleugnet, bis heute.

Sie thematisieren diese Schicksale auch in Ihrem Film, «Klassenverhältnisse am Bodensee»: die Migrant:innen, die dort in den Fabriken arbeiteten und mit denen niemand etwas zu tun hatte.

Ja, bei der Recherche zum Film habe ich mich im Bundesarchiv in diplomatischen Depeschen vergraben, da findest du völlig schamlose Überlegungen aus den zwanziger, dreissiger Jahren, aber auch später: wie man möglichst billige Arbeitskräfte in die Schweiz holen kann, einen Mehrwert abschöpft, sie aber auf keinen Fall gleichstellt. Die Leute wegschweigen. Und dann scheinheilig tun, wenn es Probleme gibt – als hätte man nicht genau das in Kauf genommen. Es braucht die Ausgrenzung, wenn man wirklich unverfroren von diesen Menschen profitieren will.

So was macht einen doch wahnsinnig. Das wäre jetzt wirklich mal ein echter Grund für Yoga: um das auszuhalten. Alles andere ist Pipifax dagegen.

Ariane Andereggen (53) ist Performancekünstlerin, Schauspielerin und Filmemacherin und am 15. September im Xenix zu Gast, wenn ihr Film gezeigt wird.