Alice Channer: Augenschein und Wirkung

Nr. 37 –

Extravagante Skulpturen mit ganz konkreten Fingerzeigen: Wie die Kunst von Alice Channer nicht nur das Appenzell, sondern auch Modeindustrie und Autofabriken beleuchtet.

Installation «Body Shop» von Alice Channer
Mit Straussenfedern Autokarosserien polieren: Die Installation «Body Shop» lässt Organisches und Industrielles verschmelzen – und irritiert damit gehörig.   Foto: Roman März

Obwohl Alice Channer weltweit schon in vielen bekannten Institutionen zu Gast war, wurde das Werk der britischen Künstlerin in der Schweiz bis jetzt kaum in Ausstellungen gezeigt. Die erste grosse Schweizer Einzelschau füllt Kunsthalle und Kunsthaus Appenzell – und lässt uns in die dramatische Inszenierung eines etablierten bildhauerischen Talents eintauchen, das neben den ästhetischen viele weitere Register zieht.

Federleichte Stahlketten

Das erste Ausstellungskapitel «Heavy Metals» startet im Kunsthaus recht schlicht mit überdimensionalen, runden, glatt geschliffenen Kalksteintabletten. Die einzelnen Werke tragen Titel wie «Starship (Super Heavy)», die Abdrücke an der Oberfläche, die einst von urzeitlichen Schnecken herstammten, sind gefüllt mit glänzenden Aluminiumbahnen. Andere Einbuchtungen sind mit in Metall gegossenen grossen Kopffüssern gefüllt, in einer weiteren kreisrunden Aushöhlung steckt satt gefalteter blutroter Stoff. Das Spiel mit realen Gegenständen und ihren Nachahmungen wird also früh eröffnet, ebenso wie die Frage nach der Herkunft alles Seienden: Wie und wann wurde etwas zu dem, was es heute ist? Wer oder was hat es geformt? Der Titel der Arbeit verweist flüchtig auf Elon Musk und seine megalomanischen interstellaren Ambitionen. Das Prähistorische und die Zukunft sind in eine Medizintablette gepresst – die im Hals stecken bleibt.

Diese Anspannung wächst im weiteren Verlauf der Ausstellung weiter an. Um ein weiteres auf dem Boden ausgelegtes Werk genauer zu inspizieren, watet man in einem anderen Raum knöcheltief durch harte schwarze Tropfen aus rezykliertem HDPE, Polyethylen mit hoher Dichte, Rohmaterial für unzählige Plastikprodukte unseres Alltags. Die Stoffskulptur mit dem Titel «Birthing Pool» ist von amorpher Gestalt und scheint sich durch den ganzen Raum zu einem grossen Fenster hinzubewegen. Ihre tiefgelegte, stählerne Einfassung enthält weitere ineinandergefaltete Stoffe, rote, schwarze und solche mit silbernem Schlangenhautmuster. Das opulente, dichte Arrangement wirkt exquisit, aber es fühlt sich schrecklich unangenehm an, durch die Plastikteilchen zu stapfen, die uns doch so vertraut sein müssten. Als Betonung einer potenziellen Abkoppelung zwischen Augenschein und Wirkung von Dingen haben die Metalleinfassungen die Form einer riesigen Wasserlilie: eine giftige Modeblume aus der Gartenwelt des 19. Jahrhunderts.

Eine Ansammlung von Stahlketten, die von der Decke hängen und sich am Boden zur Zierschnecke rollen, alle mit mehreren extravaganten Kränzen aus Straussenfedern, beschliesst das erste Ausstellungskapitel fulminant. Die Ketten wirken wie ausgefallene Kostüme oder wie ein tropischer Palmenwald. Gleichzeitig irritiert der so offensichtliche Kontrast zwischen dem harten Metall und den organischen Tierfedern. Der Titel der Arbeit, «Body Shop», ist ein deutlicherer Hinweis, als man vielleicht meinen könnte: Reinigungsscheiben mit Straussenfedern werden zum Polieren von hochglänzenden Autokarosserien verwendet, Channers leicht absurd wirkende Installation lehnt sich also direkt an eine – wohl nur wenigen bekannte – industrielle Realität an.

Channer ist eine Präzisionsarbeiterin. Ihre harten Materialien – Ketten, Gerüste, Plastik, Metalle – und deren Herrichtung sind meist sehr klinisch, was sofort die Frage aufwirft, ob diese hygienisch saubere Präsentation Schutz oder versteckte Drohung ist. Und obwohl sich die 46-Jährige seit knapp zwei Jahrzehnten augenscheinlich vor allem mit Skulpturen und Formen befasst, untersucht und integriert sie dabei auch industrielle Prozesse. Diese in sich schon unvertraut, gar unheimlich wirkenden Assemblagen ergänzt sie zusätzlich mit biologischen Materialien.

Stofftropfen an der Decke

Eine weitere pointierte Verschmelzung von Organischem und Industriellem ist der plissierte Stoff, der sich durch die ganze Ausstellung zieht: entweder dicht zum Akkordeon gefaltet, zusammengepresst als Teil von grösseren Strukturen oder ausgerollt in langen Bahnen, gerahmt oder von der Decke hängend. Neben den – auf Accessoires und Kleidern weitverbreiteten und eigentlich doch sehr bizarren – Schlangenhautmustern nimmt Channer Bilder von alten Baumrinden und geologischen Formationen und druckt sie vergrössert auf Stoffe, die dann zum Beispiel wie ein riesiger gewellter Tropfen von der Decke hängen, so wie bei «Soft Sediment Deformation (Iron Bodies)». Channer liebt plissierte Stoffe – und macht vieldeutige Anspielungen auf die Modeindustrie, die als kreativ, inspirierend, oberflächlich, übersteuert und irrelevant zugleich wahrgenommen werden kann. Mit ihren «Trickle down»-Effekten beeinflusst die Modeindustrie aber auch Volkswirtschaften, Ressourcen und die Arbeitswelt entscheidend.

Grosszügig auf zwei Häuser verteilt bietet die Doppelausstellung in Appenzell der Künstlerin viel Raum für eine nuancierte Darbietung ihrer Werke. Dazu kommt, dass Alice Channers Kunst auch mit der Appenzeller Landschaft keineswegs nur kontrastiert, sondern sich im Zusammenspiel aufschlussreiche Echoräume eröffnen. Das Kantonshauptdorf ist umsäumt von satten grünen Wiesen. Doch was auf den ersten Blick idyllisch aussieht, ist bei näherer Betrachtung wohl so aseptisch und voller Chemikalien wie eine Fabrik.

Alice Channers Ausstellung «Heavy Metals / Silk Cut» ist noch bis am 8. Oktober 2023 im Kunstmuseum und in der Kunsthalle Appenzell zu sehen. www.kunstmuseum-kunsthalle.ch