Belarus-Prozess: «Arrogant und taktlos»

Nr. 40 –

Der Angeklagte ist vom Vorwurf des Verschwindenlassens freigesprochen worden. Ein fragwürdiges Urteil.

Die Kirchturmglocke in St. Gallen schlägt drei Uhr. Olav Humbel , Präsident des Kreisgerichts Rorschach, bittet die Anwesenden, zur Urteilsverkündigung aufzustehen. Dann spricht er den Angeklagten Juri Harauski vom Vorwurf frei, am «zwangsweisen Verschwindenlassen» von drei Oppositionellen in Belarus 1999 beteiligt gewesen zu sein. Die nie aufgeklärten Taten trugen wesentlich dazu bei, dass sich das Land unter Aljaksandr Lukaschenka zu einer Diktatur entwickelt hat (siehe WOZ Nr. 39/23).

Harauski hatte sich selbst bezichtigt, als Mitglied der Spezialeinheit Sobr an der Entführung und Ermordung von Juri Sacharanka, Anatolij Krasouski und Wiktar Hantschar beteiligt gewesen zu sein. Humbel, der das Urteil gemeinsam mit zwei Laienrichtern fällte, erachtet die Aussagen allerdings als nicht besonders glaubwürdig: «Der Beschuldigte verstrickte sich in seinen Befragungen in zahlreiche Widersprüche.» Sein Wissen über die Taten könne er auch bloss vom Hörensagen oder aus den Medien haben. «Juri Harauski taugt nicht zum Kronzeugen gegen die Führungsriege in Weissrussland.»

Am Tatbestand vorbei

Weiter führte Humbel bei der Urteilseröffnung letzten Donnerstag aus, dass es sich bei den Taten nicht um zwangsweises Verschwindenlassen handeln könne. «Der Beschuldigte war nicht Teil eines Festnahme- oder Entführungskommandos, sondern eines eigentlichen Killerkommandos.» Hier sprach er Harauski also wieder eine direkte Tatbeteiligung zu. Der Straftatbestand des Verschwindenlassens, der als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt, wurde in der Schweiz zum ersten Mal seit der Ratifizierung der entsprechenden Uno-Konvention 2016 von einem Gericht beurteilt.

Der Staatsanwalt will erst nach der schriftlichen Urteilseröffnung über einen möglichen Weiterzug befinden. Severin Walz, der als Nebenkläger zwei Töchter der verschwundenen Oppositionellen vertrat, findet klare Worte: «Dieses Urteil ist falsch. Es zielt am Tatbestand des Verschwindenlassens vorbei. Wir melden Berufung an.»

Mit ihrer Begründung unterschlagen die Richter tatsächlich, was das Verschwindenlassen auszeichnet: dass die Behörden ein Verbrechen nicht aufklären und die Auskunft darüber verweigern. «Ich bin vom Urteil sehr enttäuscht. Darin zeigt sich ein falsches Verständnis der Straftat. Das Verschweigen gehört wesentlich zum Verbrechen des Verschwindenlassens dazu. Für diese Einsicht haben die Angehörigen von Opfern weltweit gekämpft», sagt Walerija Krasouskaja, eine der Töchter, der WOZ. Für sie persönlich bedeute das Urteil, «dass ich nicht mit diesem Kapitel abschliessen kann».

Fragezeichen hinterlässt auch die Prozessführung. Der Gerichtspräsident zielte in der Befragung des Angeklagten gar nicht erst auf eine Schilderung des Tatverlaufs ab, sondern versuchte, ihn von Beginn weg in Widersprüche zu verstricken, um einen möglichen «Asylmissbrauch» nachzuweisen. Obwohl sich die internationale Brisanz des Falls abzeichnete, verzichtete das Gericht auf eine Übersetzung für das Publikum und die Töchter. Eine Übersetzung erhielt einzig der Angeklagte teilweise – und die war oft missverständlich.

Erster Prozess im Ausland

Die Perspektive der Angehörigen, die ebenfalls Opfer des Verschwindenlassens sind, wurde in der Verhandlung gar nicht berücksichtigt. «Das empfand ich als arrogant und taktlos», meint Krasouskaja. Alena Sacharanka, die Tochter eines anderen ermordeten Oppositionellen, will sich im Moment nicht zum Urteil äussern: Sie fühle sich zu schwach dazu.

Trotz des Urteils werten die Menschenrechtsorganisationen Wjasna, Trial und FIDH den Prozess in einer Stellungnahme als Erfolg: «Zum ersten Mal weltweit hat ein Gericht über Verbrechen entschieden, die in Belarus begangen wurden.» Die Opfer würden ihren Kampf für die Wahrheit und die Gerechtigkeit fortsetzen.