Der Belarus-Prozess: 24 Jahre Ungewissheit

Nr. 39 –

1999 verschwanden in Belarus führende Oppositionelle – das Land kippte in die Diktatur. Nun stand in St. Gallen erstmals ein mutmasslicher Mittäter vor Gericht. Die WOZ hat zwei Töchter der Opfer begleitet.

Jelena Sacharanka
«Ständig hämmert die Frage im Kopf: Lebt er noch, lebt er nicht mehr, lebt er noch?» Als Jelena Sacharankas Vater verschwand, war sie 22 Jahre alt.

Jelena Sacharankas Leben ist in zwei Abschnitte unterteilt, in einen vor und einen nach dem 7. Mai 1999: «An diesem Tag hat unser Horror begonnen, von einem Augenblick zum nächsten.» Am Morgen hatten die Eltern in Minsk noch den Markt aufgesucht, um für den kommenden Feiertag einzukaufen, den Tag des Sieges der Sowjetunion über Nazideutschland. Am Abend dann verliess ihr Vater Juri Sacharanka – damals einer der bekanntesten Oppositionellen des Landes – nochmals das Haus, um einen Journalisten zu treffen.

Weil er um seine Sicherheit fürchtete, hatte sich Sacharanka eines der ersten damals verfügbaren Mobiltelefone zugelegt. Auf dem Rückweg von seiner Verabredung rief er noch rasch die Familie an: «Alles ist gut, macht nur schon mal das Essen fertig, ich bin gleich da.» Doch Juri Sacharanka sollte nie mehr nach Hause kommen.

Das gleiche Schicksal ereilte knapp vier Monate später auch Walerija Krasouskaja. Am 17. September 1999 erwachte die junge Frau mitten in der Nacht: «Es war drei Uhr morgens. Ich ging in die Küche, wo meine Mutter sass. Sie war besorgt, weil mein Vater noch nicht zurück war.» Die Mutter wollte weiter auf ihren Mann warten, schickte die Tochter zurück ins Bett. Doch auch Anatolij Krasouski sollte nicht mehr lebend zurückkehren.

Am Vorabend hatte sich der Geschäftsmann mit Wiktar Hantschar getroffen, einem weiteren führenden Oppositionellen in Belarus. «Sie hatten in einer Sauna abgemacht. Nicht zur Entspannung, sondern weil sie dort ohne Überwachung reden konnten», erinnert sich die Tochter. Nachdem der Vater am Morgen noch immer nicht nach Hause gekommen war, begab sich die Mutter gemeinsam mit Freund:innen zur Sauna. Sie fanden Blutspuren und Scherben von Krasouskis Jeep.

Walerija Krasouskaja
«Man weiss, dass etwas Schreckliches passiert ist. Doch man weiss nicht, was genau»: Der Vater von Walerija Krasouskaja verschwand im September 1999.

Als ihr Vater spurlos verschwand, war Jelena Sacharanka 22 Jahre alt. Heute lebt sie in einem Wohnblock am Rand der deutschen Stadt Münster und arbeitet als Verkäuferin. Walerija Krasouskaja war bei der Entführung ihres Vaters 17; auch sie hat Belarus vor langer Zeit verlassen, wohnt heute an einer touristisch belebten Gracht mitten in Amsterdam, wo sie als Ernährungsberaterin tätig ist. Mitte September bringt die beiden Frauen ihr Schicksal in der Schweiz zusammen.

Vor dem Kreisgericht Rorschach im Kanton St. Gallen findet am 19. und 20. September ein Prozess wegen «mehrfachen Verschwindenlassens» statt. Angeklagt ist ein Belaruse namens Juri Harauski, der 2018 in die Schweiz geflüchtet ist. Zuerst vor den Asylbehörden, später vor der St. Galler Staatsanwaltschaft hat Harauski ausgesagt, Ende der neunziger Jahre als Mitglied der Spezialeinheit Sobr an der Entführung und Ermordung von Sacharanka, Krasouski und Hantschar beteiligt gewesen zu sein. Detailliert schilderte Harauski in den Befragungen die Ereignisse jener Stunden, in denen Jelena Sacharanka und Walerija Krasouskaja bange auf die Rückkehr ihrer Väter warteten.

Was heisst verschwinden?

Der Prozess in St. Gallen ist gleich eine doppelte Premiere: Zum ersten Mal überhaupt werden die damaligen Verbrechen gegen die beiden Oppositionellen und den Unternehmer vor einem Gericht verhandelt. Unter Machthaber Aljaksandr Lukaschenka sind die Taten in den letzten Jahrzehnten systematisch vertuscht worden, entsprechend wichtig ist das Verfahren für die demokratische Opposition des Landes. Und zum ersten Mal findet in der Schweiz eine Verhandlung wegen «zwangsweisen Verschwindenlassens» statt.

Dass Harauski in der Schweiz vor Gericht gebracht werden kann, ist eine Folge des Weltrechtsprinzips. Aufgrund der fehlenden Zuständigkeit können Schweizer Behörden keinen Mord in Belarus verfolgen. Anders verhält es sich allerdings bei sogenannten Völkerstraftaten: Verbrechen gegen die Menschlichkeit können Staaten auch dann ahnden, wenn sie nicht auf ihrem Hoheitsgebiet passiert sind. Das gilt in der Schweiz seit wenigen Jahren auch für das Verschwindenlassen: Ende 2016 hat Bern das entsprechende Uno-Übereinkommen ratifiziert.

Aljaksandr Lukaschenka
Ständig brutaler werdende Repression sichert ihm die Macht: Aljaksandr Lukaschenka. Foto: Mikhail Tereshenko, Tass / Keystone

Nach Artikel 185 des Strafgesetzbuchs erhält eine Freiheitsstrafe, «wer im Auftrag oder mit Billigung eines Staates oder einer politischen Organisation einer Person die Freiheit entzieht». Voraussetzung für den Straftatbestand ist dabei auch, dass jede Auskunft über das Schicksal oder den Verbleib der Person verweigert wird. Aufgrund dieses Artikels konnten die Töchter und die Menschenrechtsorganisationen Wjasna, Trial und FIDH eine Anzeige gegen Harauski einreichen. Die St. Galler Staatsanwaltschaft klagte ihn daraufhin an. Weil Harauski als vorläufig Aufgenommener im Kanton St. Gallen lebt, ist das Kreisgericht Rorschach für das Verfahren zuständig.

Doch was heisst «Verschwinden» genau? Juristisch wie sprachlich ist der Vorgang nur schwer fassbar. «Sich aus jemandes Blickfeld entfernen und dann nicht mehr sichtbar sein», schreibt der sonst präzise Duden etwas umständlich. Was das Verschwindenlassen eines Menschen bedeutet, können letztlich nur jene erzählen, die dieses Verbrechen selbst erfahren haben. Frauen wie Jelena Sacharanka und Walerija Krasouskaja.

Juri Harauski vor dem Gerichtsgebäude in St. Gallen
«Ich habe nur Befehle ausgeführt»: Juri Harauski vor dem Gerichtsgebäude in St. Gallen.  Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone

«Das Verschwindenlassen ist für die Angehörigen die schlimmste Strafe, die sich die Natur ausdenken kann», sagt Sacharanka in ihrer Küche in Münster einige Tage vor dem Prozess. «Die Unsicherheit bestimmt fortan jeden Tag, sie geht einfach nicht weg.» Ständig habe die Frage, was mit dem Vater passiert sei, in ihrem Kopf gehämmert: Wurde er inhaftiert? Ist er gefoltert, gar getötet worden? «Man läuft und zählt die Steinchen, die herumliegen: Lebt er noch, lebt er nicht mehr, lebt er noch?» Irgendwann habe sie sich mit dem Gedanken abfinden müssen, dass ihr Vater tot sei. «Doch wenn man keine Bestätigung und kein Grab hat, gibt man die Hoffnung nie ganz auf, dass er noch leben könnte.»

Ähnlich beschreibt Krasouskaja in ihrem Arbeitszimmer in Amsterdam den Zustand fortwährender Unsicherheit: «Man weiss, dass etwas Schreckliches passiert ist. Doch man weiss nicht, was genau. Die verantwortlichen Behörden geben keine Auskunft.» In den ersten Jahren sei sie in eine tiefe Depression gestürzt, habe alle ihre Träume für das Erwachsenenleben aufgegeben. «Es heisst, dass man bei einem schweren persönlichen Verlust sieben Jahre braucht, um zur Normalität zurückzufinden. Doch wenn jemand verschwindet, dann endet dieser Zustand einfach nie.»

Beide Frauen erzählen ihre Geschichte gefasst. Und doch bricht Krasouskaja zwischendurch in Tränen aus, muss Sacharanka eine Beruhigungstablette nehmen. Die unfassbare Tat destabilisiert sie bis heute. Und, davon sind beide überzeugt: Das Verschwindenlassen ihrer Väter und weiterer Regimegegner Ende der neunziger Jahre hat sich auf die ganze belarusische Gesellschaft ausgewirkt. Langsam sickerte die Angst ein. Weggefährt:innen aus der Opposition riefen nicht mehr bei den Familien an, Nachbar:innen wandten sich ab – aus Furcht, sie könnten die nächsten Opfer werden. «Die Mordmaschine des Regimes hatte zu laufen begonnen», sagt Sacharanka.

Der Weg in die Diktatur

Die belarusische Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja spricht im Magazin «Politico» im Vorfeld des St. Galler Prozesses von einem «historischen Fall». 2020 trat sie bei der Wahl gegen Diktator Lukaschenka an. Der Prozess gegen Juri Harauski könne «ein Wendepunkt» werden, «der die Straffreiheit für Lukaschenka und seine Handlanger verunmöglicht», schreibt Zichanouskaja.

Um die historische Dimension der damaligen Taten zu verstehen, lohnt sich ein Anruf bei Pawel Sapelka. Der Anwalt gehört zum Leitungsteam des belarusischen Menschenrechtszentrums Wjasna, das während der Massenproteste gegen das Lukaschenka-Regime in den neunziger Jahren entstanden ist. Heute ist die geschichtsträchtige Organisation als «extremistisch» verboten. Anwalt Sapelka konnte sich selbst in Sicherheit bringen, er meldet sich aus Litauen. Um die ganze Geschichte zu verstehen, meint er, müsse man bis an den Anfang zurückgehen.

1991 erklärte sich die ehemalige Sowjetrepublik Belarus für unabhängig, wenige Jahre später kam Lukaschenka an die Macht. «Während sich Demokraten und Kommunisten stritten, was das Beste für die Bevölkerung sei, gewann ein einfacher, zerzauster Typ die Herzen der Menschen», erzählt Sapelka. Als Präsident zeigte Lukaschenka allerdings schnell sein wahres Gesicht: 1996 initiierte er einen «verfassungsfeindlichen Putsch», durch den das Parlament verkleinert, die Exekutivmacht gestärkt wurde. «Die Ermordung von Oppositionellen war dann ein entscheidender Schritt hin zur Diktatur», sagt Anwalt Sapelka. «Wäre das nicht passiert, wäre Belarus heute ein anderes Land.» Mit den Regimekritikern ist auch die demokratische Perspektive verschwunden. Aus Angst, ein ähnliches Schicksal zu erleiden, hätten sich Oppositionelle zurückgezogen oder seien ausgewandert.

Juri Sacharanka (Mitte) in einer undatierten Aufnahme
Er wiedersetzte sich dem Diktator: Juri Sacharanka (Mitte) in einer undatierten Aufnahme. Foto: Privat

Mit Juri Sacharanka, dem Vater von Jelena, hatte sich schliesslich ein prominentes Regierungsmitglied Lukaschenka widersetzt. Als Innenminister hatte er Befehle verweigert, gewaltsam gegen Parlamentarierinnen und Arbeiter vorzugehen – und war dafür 1995 vom Präsidenten entlassen worden. In einem Fernsehinterview kritisierte er daraufhin Lukaschenkas Führungsstil: «Die Schwächeren werden gebrochen, die Stärkeren erledigt. So wird eine gehorsame Staatsmaschinerie geschaffen.» Sacharanka wechselte in die Opposition; kurz vor seinem Verschwinden wollte der einstige Generalmajor mit seinem «Bund der Offiziere» eine Gegenmacht etablieren.

Bis heute baut die Diktatur von Lukaschenka auf der Kontrolle des Sicherheitsapparats, dem sich Sacharanka entgegengestellt hatte. In den letzten Jahren ist die Repression gegen Regimegegner:innen und Andersdenkende immer brutaler geworden. Im Jahr 2020 folgten auf eklatante Wahlfälschungen Massenproteste, die mit aller Härte niedergeschlagen wurden. Aktuell zählt das Menschenrechtszentrum Wjasna knapp 1500 politische Häftlinge – darunter auch Friedensnobelpreisträger und Wjasna-Gründer Ales Bjaljazki.

Ein unerwarteter Zeuge

Mit der Entführung ihrer Väter beginnt für Jelena Sacharanka und Walerija Krasouskaja die Suche nach der Wahrheit – eine Odyssee, die mittlerweile 24 Jahre andauert. «Am nächsten Tag sind wir sofort zur Polizei gegangen und haben eine offizielle Anzeige geschrieben. Doch die Reaktion blieb aus, erst nach sechs Monaten wurden überhaupt Ermittlungen eröffnet», erinnert sich Sacharanka in ihrer Küche. Als ihre jüngere Schwester per Flugblatt nach dem Vater suchte, wurde sie von der Polizei aufs Revier mitgenommen. «Die Flyer haben sie einfach mit ihren Stiefeln zertrampelt.» Das Verhalten empört Sacharanka bis heute.

Auch Walerija Krasouskajas Mutter kontaktiert alle möglichen Behörden, bei ihrer Suche wird sie von Menschenrechtlerinnen und Journalisten unterstützt. «Sie taten alles, was möglich war», erzählt die Tochter. Doch immer wieder seien neue Beamte mit den Ermittlungen betraut worden. «Sie haben uns überhaupt keine Informationen gegeben.» Für die Mutter, die heute in den USA lebt, wurde die Suche zur Lebensaufgabe: Sie traf sich mit Politiker:innen und Familien, deren Angehörige ebenfalls spurlos verschwunden waren, Opfern der Diktaturen in Chile, Nepal oder Tschetschenien. Mit ihrer Stiftung We Remember setzte sie sich auch für das Uno-Übereinkommen für den Schutz vor dem Verschwindenlassen ein.

Familie Krasouski 1992 im Urlaub auf der Krim.
Familie Krasouski 1992 im Urlaub auf der Krim. Foto: Privat

Den bis heute wichtigsten Bericht zu den Oppositionellenmorden verfasste 2004 der zypriotische Berichterstatter für den Europarat, Christos Pourgourides. Er kommt darin zu einem klaren Schluss: «Die belarusischen Behörden haben nie eine saubere Ermittlung durchgeführt.» Im Gegenteil: «Auf oberster Staatsebene wurden aktiv Schritte unternommen, um den wahren Hintergrund des Verschwindenlassens zu vertuschen. Es besteht der Verdacht, dass hohe Beamte in die Tat involviert waren.»

Wurden die Morde vom Westen erst noch stark kritisiert, arrangierten sich die Regierungen bald mit dem Regime. Nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen Beziehungen: Auch in der Schweiz blieb man im Geschäft, der Eisenbahnbauer Stadler Rail unterhält in Belarus bis heute eine Produktionsstätte. Erst die Wahlproteste 2020 erinnerten wieder an die «letzte Diktatur Europas». Ins Blickfeld rückte das Land kurz zuvor auch der Mann, der plötzlich in der Schweiz auftauchte: Juri Harauski.

Das frühere Mitglied der Spezialeinheit Sobr, die auch als Todesschwadron gilt, sieht sich selbst als Informant, der sich von der Last der eigenen Vergangenheit befreien will. In einem Dokumentarfilm der Deutschen Welle aus dem Jahr 2019 schilderte Harauski den präzisen Ablauf der Taten. Wie Sacharanka auf dem Heimweg und Krasouski und Hantschar vor der Sauna in ein Auto gezerrt wurden. Wie sie verschleppt und wo sie hingerichtet wurden. Harauski nannte auch die Namen der Mittäter.

«Seine Erzählung passte wie ein fehlendes Stück ins Puzzle, das über die Jahre entstanden war», sagt Jelena Sacharanka. Nach seinem Auftritt am Fernsehen hat sie Harauski persönlich in Zürich getroffen; seine Schilderungen hält sie für glaubhaft. Auch der Europarat-Beauftragte Christos Pourgourides zweifelt nicht an den Aussagen von Harauski. Der mittlerweile 77-Jährige arbeitet noch immer als Anwalt auf Zypern. In einem Videocall meldet er sich vor einer Wand mit schwarzen Aktenordnern. «Warum sollte sich jemand eine solche Geschichte ausdenken? In Belarus bringt er sich damit in grosse Gefahr – und in der Schweiz droht ihm eine lange Haftstrafe.»

Weltprinzip am Kreisgericht

Der St. Galler Klosterbezirk ist am 19. September in das warme Licht der Spätsommersonne getaucht. In der Postkartenidylle ist viel los an diesem Dienstag. Die Bischofskonferenz trifft sich zu einer Krisensitzung wegen ihrer Missbrauchsskandale. Im unterirdisch gelegenen Saal des Kantonsgerichts findet der Prozess gegen Juri Harauski statt. Das Kreisgericht Rorschach – mit einem vollamtlichen und zwei Laienrichtern – hat den Prozess wegen des zu erwartenden Medienrummels in die Kantonshauptstadt verlegt. Tatsächlich warten zahlreiche internationale und nationale Journalist:innen vor dem Gerichtssaal. Gemeinsam mit ihrem Anwalt gehen Jelena Sacharanka und Walerija Krasouskaja wortlos an ihnen vorbei.

Zu Beginn des zweitägigen Prozesses sind alle Augen auf Juri Harauski gerichtet. An einem Stock humpelnd, betritt der Zweimeterhüne den Gerichtssaal. Den Kapuzenpulli hat er sich tief ins Gesicht gezogen, eine Sonnenbrille verdeckt die Augen. Seine Antworten in der Befragung brummelt er mehr, als dass er sie ausspricht. Die Fragen des Gerichtspräsidenten sind für ihn wohl umgekehrt auch nicht immer verständlich: Dieser versucht, die Todesschwadron Sobr in seine Vorstellung einer Armee nach Schweizer Machart einzusortieren. «Haben Sie bei den Einsätzen leichtes oder schweres Tenue getragen?», will er einmal wissen. Die oft unscharfe Übersetzung trägt das Ihre zum gegenseitigen Unverständnis bei. Zwischen dem Weltrechtsprinzip und dem Kreisgericht verliert sich die Verhandlung in Nebenschauplätzen.

Die Befragung des Gerichtspräsidenten scheint darauf abzuzielen, dass sich Harauski seine Beteiligung an den Verbrechen bloss ausgedacht habe, um in der Schweiz Asyl zu erhalten. Und tatsächlich verstrickt sich dieser in Widersprüche. Im Gegensatz zu seinen Aussagen in den Verhören beim Staatsanwalt verneint er nun plötzlich, dass er dem Einsatzleiter von Sobr die Pistole für die Hinrichtungen gereicht habe. Im Kern aber bestätigt der Angeklagte einmal mehr, an der Entführung der Oppositionellen mitgewirkt und ihrer Ermordung beigewohnt zu haben. «Doch ich war nur ein kleines Rädchen in der Maschine. Ich habe nur meine Pflicht getan und Befehle ausgeführt.» Mit seinem Geständnis, bei dem er auch die Namen der weiteren Beteiligten nannte, wolle er sich von der eigenen Last befreien und zur Aufklärung der Verbrechen beitragen. Der Befehl zu den Taten sei von ganz oben gekommen, von Lukaschenka.

«Bei den Angehörigen möchte ich um Entschuldigung bitten», sagt Harauski nach drei Stunden Befragung in seinem Schlusswort. Jelena Sacharanka und Walerija Krasouskaja sitzen im Gerichtssaal nur wenige Meter entfernt hinter ihm. Sie nehmen die Erklärung ohne jede sichtbare Regung entgegen.

In ihren Plädoyers sind sich der Staatsanwalt, der Anwalt der Töchter und Harauskis Verteidigerin einig: Er verfüge über spezifisches Täterwissen und sei wohl an den Entführungen und an den Ermordungen beteiligt gewesen. So etwa wusste Harauski, dass dem ermordeten Hantschar eine Zehe fehlte – eine Information, die in keinem der heute zugänglichen Berichte steht. Über eines besteht im Gerichtssaal nun aber Uneinigkeit: ob er sich mit seiner blossen Beteiligung auch des Tatbestands des Verschwindenlassens schuldig machte. Eine der entscheidenden Fragen dabei: Wie lange dauert das Verbrechen des Verschwindenlassens fort?

Harauskis Verteidigerin stellt sich auf den Standpunkt, dass auch Informationen von Dritten über den Verbleib der Opfer genügten, um die Straftat für beendet zu erklären. Solche habe es schon im Jahr 2001 durch den Bericht von ehemaligen Offizieren des Geheimdiensts KGB gegeben. Deshalb sei die Tat verjährt. Der Staatsanwalt sieht das anders: Das Verschwindenlassen sei als «zweiaktiges Verbrechen» konzipiert. Zuerst werde einem Opfer die Freiheit entzogen, dann die Auskunft über sein Schicksal verweigert. Erst Harauski habe seine Schweigepflicht gebrochen – und über den Verbleib der Opfer Auskunft gegeben. Der Staatsanwalt fordert drei Jahre Gefängnis, davon eines unbedingt.

In Ermangelung anderer Schweizer Urteile zieht der Anwalt der Töchter jene aus Lateinamerika herbei. Nach dem Ende der dortigen Militärdiktaturen hat sich die Rechtsprechung zum Verschwindenlassen überhaupt erst entwickelt. «Die Parallelen zum Fall Harauski sind augenfällig.» Demnach sei das Verschwindenlassen erst dann beendet, wenn die sterblichen Überreste einer Person gefunden seien.

So oder so ein Erfolg

Das Gericht will sein Urteil nicht sofort fällen. Es wird erst am Erscheinungstag dieser WOZ mündlich verkündet. Nach der Verhandlung verlässt Juri Harauski wortlos das Gericht durch einen Seiteneingang, wo ein Transporter auf ihn wartet. Interviews will er keine geben. Seine Aussagen während des Prozesses machten mehrfach deutlich, dass er sich offensichtlich missverstanden fühlte. Er sah sich wohl selbst weit mehr als Kronzeuge – und fand sich nun plötzlich in einer internationalen Medienöffentlichkeit als Angeklagter wieder.

Draussen an der Sonne steht Wjasna-Vertreter Pawel Sapelka, der für den Prozess aus Lettland nach St. Gallen gereist ist. Das Urteil sei für ihn weniger wichtig als der Prozess an sich, meint er. «Es ist ein grosser Erfolg, dass überhaupt ein rechtsstaatliches Verfahren stattfindet. Die Staatsanwaltschaft schätzte die Bedeutung der Fälle richtig ein.» Denn das Sammeln von Beweisen gegen Menschenrechtsverbrechen sei das eine, sie zur Anklage zu bringen hingegen weit schwieriger: «Noch steckt das Weltrechtsprinzip in den Kinderschuhen.» Die demokratische Welt wisse noch immer zu wenig, wie sie mit der Straflosigkeit von Diktaturen umgehen solle. «Nur mit einer universellen Rechtsprechung kann in einem Land wie Belarus Gerechtigkeit geschaffen werden.» Der St. Galler Prozess liefere dafür ein Beispiel.

Jelena Sacharanka und Walerija Krasouskaja, die am Vortag noch wie versteinert wirkten, sind heute gesprächiger. «Die Verhandlung war für mich sehr schwer zu ertragen», sagt Sacharanka. Enttäuscht sei sie besonders vom Angeklagten. «Bei unserem ersten Zusammentreffen versprach er mir, vor Gericht vollständig auszusagen. Nun hat er versucht, seine Hände möglichst aus den Verbrechen herauszuhalten und sich selbst als Opfer darzustellen.» Wie schätzt sie die Chancen einer Verurteilung ein? «Fünfzig zu fünfzig.»

Walerija Krasouskaja hat Harauski am Prozess zum ersten Mal gesehen: «Das war emotional nicht einfach, doch ich habe versucht, mich auf seine Aussagen zu konzentrieren.» Insgesamt habe sie der Prozess der Wahrheit ein Stück näher gebracht. «Ich hoffe nun, dass der Richter die im Verfahren geäusserten Erkenntnisse auch als Wahrheit bestätigen wird.» Auf eine solche offizielle Bestätigung der Verbrechen warten die beiden Töchter seit 24 Jahren. Nur so kann ihr Albtraum verschwinden.