Musée de l’immigration: Ein Parcours gegen die Demagogie
Als die Idee für ein französisches Migrationsmuseum in den achtziger Jahren lanciert wurde, herrschte höfliches Desinteresse. Heute drängen sich die Besucher:innen im gerade rundum erneuerten Ausstellungsrundgang.
Wozu braucht Frankreich ein Musée national de l’histoire de l’immigration? Weil Einwanderung Teil der Landesgeschichte ist und weil die Identität der «Grande Nation» ohne die Historie der Zugewanderten nicht verstanden werden kann, argumentiert Constance Rivière, die Generaldirektorin des Palais de la Porte Dorée, der das Museum in Paris beherbergt. Weil laut jüngsten Statistiken 31 Prozent der Bürger:innen Immigrant:innen erster, zweiter oder dritter Generation sind. Weil Einwander:innen Kriege mitgefochten, zum Wiederaufbau beigetragen und Krisen wie die jüngste Pandemie zu bewältigen geholfen haben. Weil Frankreichs Ausstrahlung in der Welt – auch – auf einer Tradition der Gastfreundschaft und Brüderlichkeit gründet. Und weil das Land ohne den Beitrag von Immigrant:innen auch in den Bereichen Kunst und Sport so viel ärmer wäre.
Sébastien Gokalp, der Direktor der Institution, spricht im Vorwort des Katalogs zur jüngst rundum erneuerten Dauerausstellung von einem «neutralen, nach Kräften auf Dokumente abgestützten wissenschaftlichen Ansatz, der das tatsächliche Ausmass der Einwanderung und ihrer Behandlung in Frankreich im Lauf der Zeiten erfasst». Der bei der Eröffnung des Museums 2007 vorgestellte Parcours war noch stark personalisiert: Er zeichnete den Weg eines archetypischen Immigranten nach, von der Entscheidung zum Verlassen der Heimat bis zum Erhalt des französischen Passes. Der von 800 auf 1800 Quadratmeter vergrösserte neue Rundgang macht demgegenüber vornehmlich Fakten an elf historischen Daten fest.
Diese führen vom «Code noir» von 1685, einem Edikt zur Regulierung der Sklav:innenhaltung in Frankreichs überseeischen Besitztümern, bis zur Jetztzeit. Dabei wird auch herausgearbeitet, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Wirtschaftskonjunktur, Immigrationspolitik und Fremdenhass besteht. Letzterer flammte bereits in den 1880er und 1890er Jahren auf, als während einer langen Flaute belgische und italienische Arbeitsmigrant:innen Opfer von Übergriffen, ja Pogromen wurden. Daneben thematisiert die Schau Polizeigewalt, den Aufstieg des rechtsextremen Front National (heute: Rassemblement National), die Konstruktion eines «muslimischen Problems» sowie die Ausbeutung und die dieser vielerorts entspringenden Revolten migrantischer Arbeiter:innen.
Der Elefant im Raum
Der Einleitungstext zum Kapitel «1973» evoziert die Kämpfe der Zeit – gegen rassistische Verbrechen, für soziale Gerechtigkeit in den Fabriken, die Vertretung der Einwander:innen in den Gewerkschaften, eine Erneuerung ihrer Unterkünfte, das Anrecht auf eine menschenwürdige Unterbringung, die Gewähr eines dauerhaften Rechtsstatus – und spricht in diesem Zusammenhang von «abwechselnden Siegen und Episoden der Repression und Ausschaffung». Eine Wortwahl wie diese zeigt deutlich, dass das Museum für die Ideale von 1789 eintritt: für Freiheit, Gleichheit und sozialstaatliche Brüderlichkeit. Doch in einer Zeit, in der ein Onlinespendenaufruf für einen Todesschützen in Polizeiuniform viermal so viel Geld einbringt wie jener für Nahel Merzouk, sein minderjähriges Opfer, assoziieren viele Bürger:innen diese Ideale mit weltfremden, woken Hirngespinsten.
So bleibt das progressive Plädoyer des Museums unausgesprochen. Der Elefant im Raum – die millionenköpfige Schar der rechtsextremen Fremdenhasser:innen im Land – soll augenscheinlich nicht vor den Kopf gestossen werden. So nachvollziehbar diese Herangehensweise auch scheint, illustriert sie doch die Schwierigkeit des Versuchs, mit Krakeeler:innen das Gespräch zu suchen und Verschwörungstheorien mit Argumenten zu begegnen. Mit feiner Stimme und Fakten zuhauf sucht das Museum neben aufgeschlosseneren Kreisen auch jene zu belehren, die nichts lernen wollen. Ob das gelingt?
Doch womöglich greifen ja andere Trümpfe. Der Parcours enthält nicht nur Texte, Tafeln und Dokumente, sondern auch Fotos und Filmausschnitte, Ölgemälde und Installationen, ein Musikstudio, das 84 Songs zur Migrationsthematik parat hält, sowie 21 Schlaglichter auf Einzelschicksale, angereichert durch persönliche Objekte, von der Maurerkelle bis zur Militärmedaille. Auf dieser menschlich-emotionalen Ebene lässt sich vielleicht dann doch ein wirksames Hausmittel gegen Rassismus verabreichen: Empathie für die vielen Gestalten der Immigration.
Die Geschichte des Museums, von seinen Anfängen als Wunschprojekt progressiver Kreise bis zur jüngsten Rundumerneuerung des Parcours, spiegelt die Positionen der involvierten Akteur:innen wider. Seit 1988 durch linke Historiker wie Pierre Milza und Gérard Noiriel sowie durch Aktivist:innen mit Migrationshintergrund getragen, stiess das Vorhaben der Schaffung eines Musée de l’immigration auf das höfliche Desinteresse der in jenen Jahren zumeist regierenden Sozialist:innen. Bis endlich ein neogaullistischer Präsident seine Umsetzung in die Hand nahm. Jacques Chirac, entsetzt, dass 2002 der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl der Präsidentschaftswahl gegen ihn antreten konnte, gleiste die Museumsgründung bereits im Folgejahr auf.
Und zwar mit einem dezidiert politischen Programm: Die negative Darstellung von Immigrantinnen und Immigranten und die daraus entspringenden Diskriminierungen sollten bekämpft, rassistische Einstellungen und Verhaltensweisen an der Wurzel gepackt werden.
Grosses Gedränge
So explizit und kämpferisch wurde der Daseinsgrund des Museums nie wieder formuliert. Denn mit Chiracs Nachfolger, Nicolas Sarkozy, gelangte 2007 ein Demagoge an die Staatsspitze, der dem Rechtsextremismus das Wasser abzugraben versuchte, indem er einen Teil von dessen Programm umsetzte. Die Schaffung eines Ministeriums, in dessen Name die Begriffe «Immigration» und «nationale Identität» eine unheilvolle Verbindung eingingen, veranlasste prompt acht von zwölf Mitgliedern des Geschichtskomitees der im Entstehen begriffenen Institution zum Rücktritt. Sarkozy rächte sich, indem er das wenige Monate später eröffnete Haus uneingeweiht liess – weder er noch ein:e Minister:in zeigte sich bei der Inauguration im Oktober 2007. Stattdessen suchte der Staatschef, mit dem Projekt einer Maison de l’histoire de France eine Gegeninstitution aufzubauen, die eine alternative, offizielle Geschichtsversion verbreitet hätte; wie so vielen vollmundigen Ankündigungen Sarkozys folgte auch dieser keine Konkretisierung.
Das Immigrationsmuseum, das pikanterweise in einem ehemaligen Kolonialmuseum untergebracht ist, wurde erst 2014 offiziell eingeweiht, durch Sarkozys sozialistischen Nachfolger François Hollande. Da rang das unterdotierte und durch eine überkomplizierte Verwaltungsstruktur belastete Haus bereits mit gravierendem Besucher:innenschwund – im Jahresmittel wurden in den sieben ersten Jahren rund 70 000 Eintritte verbucht. Seitdem konnte, auch dank der Leistung renommierter Historiker wie Benjamin Stora und Pap Ndiaye im Leitungsgremium, die Frequentierung markant erhöht werden: Die neue Dauerausstellung soll jetzt 200 000 Besucher:innen im Jahr anziehen. Bei unserem jüngsten Besuch herrschte schier pariserisches Gedränge.