Kino: Gehetzt bis ans Ende der Nacht
Atemlos durch Paris: In «L’histoire de Souleymane» spielt Abou Sangare einen Sans-Papiers, der sich mit einer gekauften Geschichte den Aufenthalt sichern will. In Cannes gewann er damit einen Preis für den besten Hauptdarsteller.
Souleymane (Abou Sangare). Still: Trigon Film
Wie fühlt sich Paris aus der Perspektive eines «illegalen» Fahrradkuriers an? Allein die Bilder von «L’histoire de Souleymane», viele davon selbst von einem Fahrrad aus aufgenommen, geben eine klare Antwort. Die Stadt wirkt fremd, ungeduldig und gefährlich, um nicht zu sagen: feindselig.
Der Eindruck trügt nicht. In zwei Tagen hat Souleymane (Abou Sangare, extrem wirkungsvoll in seiner ersten Rolle) einen Termin beim OFPRA, dem französischen Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen, wo er eine Geschichte wird erzählen müssen. Wenn er diese Geschichte glaubwürdig und überzeugend erzählt, wenn sie bestimmten klar definierten Kriterien entspricht und im besten Fall sogar wahr ist, darf Souleymane in Frankreich bleiben. Andernfalls muss er das Land verlassen. So will es das Asylsystem im heutigen Europa, wo gerade jene politisch Erfolg haben, die nach noch mehr Abschottung rufen (wobei das oft dieselben sind, die gleichzeitig ausbeuterische Wirtschaftspraktiken von sämtlichen Einschränkungen befreien möchten).
Nicht ganz legal
Die Option der Wahrheit fällt für Souleymane weg, weil die Umstände, unter denen er in seinem Herkunftsland Guinea leben müsste, nicht lebensbedrohlich genug sind. Doch weil Souleymane bei weitem nicht der Einzige mit diesem Problem ist und weil die Nachfrage das Angebot bestimmt, gibt es alternative Möglichkeiten, zu einer Geschichte zu kommen, die das Amt überzeugen könnte. Geschichten von solcher Überzeugungskraft sind natürlich nicht gratis, und wenn Souleymane trotz fehlender Arbeitsbewilligung das nötige Geld für eine solche Geschichte verdienen will, ist er der Skrupellosigkeit von Akteuren ausgesetzt, die ausserhalb der legalen Sphären operieren.
Dafür gibt es die Gig Economy und Menschen, die einem für ein Drittel des Verdienstes ihren Account bei einer Foodkurierplattform vermieten. So kann auch ein Sans-Papiers wie Souleymane Aufträge zur Auslieferung von Essen annehmen und ausführen – bis ihn die Polizei erwischt oder der Account wegen zu vieler schlechter Bewertungen ungeduldiger Kundschaft gesperrt wird.
Um Kopf und Kragen
Die Verflechtungen zwischen den Ungerechtigkeiten des Asylsystems und den Ausbeutungsstrukturen der Gig Economy werden selten so unmittelbar erfahrbar wie in «L’histoire de Souleymane». Der Film des französischen Regisseurs Boris Lojkine spielt während der zwei Tage vor dem Termin beim Amt, die Souleymane grösstenteils mit dem Ausliefern von Essen verbringt, während er sich mit Kopfhörern seine gekaufte (aber noch nicht bezahlte) Geschichte einprägt.
Lojkines Spielfilm, gedreht mit Lai:innen in den Strassen von Paris, lässt sich in vielerlei Hinsicht als Thriller beschreiben: schnell und farbig, laut und gefährlich, voller Adrenalin und Situationen, bei denen es direkt und indirekt um Leben und Tod geht. Essen ausliefern, bevor es kalt (und die Bewertung schlecht) wird: Auf dem Fahrrad in den Strassen von Paris bedeutet das, Kopf und Kragen zu riskieren. Einen letzten Auftrag annehmen auf das Risiko hin, den letzten Bus zum Nachtasyl ausserhalb der Stadt zu verpassen, wo Souleymane sicher vor Kälte und Gewalt die Nacht verbringen könnte? Ein Dilemma, das in seinem Realismus hier aufwühlender wirkt, als es jedes fiktionale Plotkonstrukt sein könnte. Der finale Showdown sozusagen findet dann im anonymen Büro des OFPRA statt, wo eine wohlgesinnte, aber ans Gesetz gebundene Beamtin (Nina Meurisse) Souleymanes Geschichte protokolliert.
Von der falschen Seite her
Da der Thriller nicht das respektabelste unter den Filmgenres ist, mag sich die Frage aufdrängen, ob eine auf Suspense basierende Erzählweise dieser Thematik denn angemessen sei. Bloss dass ein solcher Einwand die Sache von der falschen Seite her betrachten würde. Unangemessen ist nicht, dass hier die Geschichte eines Sans-Papiers als Thriller erzählt wird. Sondern dass Schicksale wie jenes von Souleymane sich allzu oft wie ein solcher abspielen.
Wie Souleymanes Geschichte enden wird, lässt Lojkines Film relativ offen, doch auch über ihren Beginn lässt sich spekulieren. War es vor gut 500 Jahren mit dem transatlantischen Sklav:innenhandel, an dem auch Frankreich gut mitverdient hat? Oder später erst, mit der Kolonisierung und wirtschaftlichen Ausbeutung eines ganzen Kontinents? Von Ländern wie Guinea etwa, das bis 1958 eine französische Kolonie war? Für seine «Sezession» wurde Guinea dann mit wirtschaftlichen Vergeltungsmassnahmen bestraft, worauf das Land Jahrzehnte der Diktatur und der politischen und wirtschaftlichen Instabilität erleiden musste, vor der zu fliehen durchaus nachvollziehbar scheint.
Trotzdem werden sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge in Frankreich genauso wenig anerkannt wie anderswo – vielleicht um zu vermeiden, dass sich der Diskurs zu stark an diesem Euphemismus reiben könnte, nachdem bereits andere Themen wie koloniale Raubkunst zu viel Staub aufgewirbelt haben. Die traurige Ironie immerhin, dass Abou Sangare, Gewinner eines Schauspielpreises in Cannes, als Sans-Papiers in Frankreich bisher keine Aufenthaltsbewilligung hatte, wurde im dritten Anlauf jetzt beseitigt, wie seine Anwältin letzte Woche verlauten liess.
«L’histoire de Souleymane». Regie: Boris Lojkine. Frankreich 2024. Jetzt im Kino.