Angst und Wut: «Es gibt hier keinen sicheren Ort»

Nr. 41 –

Wie erleben die Menschen vor Ort die Gewalteskalation in Nahost? Stimmen aus Israel und den palästinensischen Gebieten.

Wesam Amer, Dekan an der Universität Gaza

«Ich habe mit meiner Familie unser Haus im Süden von Gaza verlassen, wir halten uns jetzt in der Nähe auf. Die Situation hat sich extrem verschlimmert. Gaza ist von allem abgeschnitten. Es gibt nur noch zwei Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung fällt immer wieder aus. Die israelischen Luftangriffe zielen auch auf Wohnhäuser. Bei Warnungen der Armee müssen wir die Häuser verlassen und warten ab, was sie bombardieren. Aber es gibt auch Angriffe ohne Vorwarnung. Viele versuchen deshalb, in den Schutzräumen des Uno-Hilfswerks UNRWA unterzukommen, die aber keinen vollkommenen Schutz bieten. Es gibt hier keinen sicheren Ort.

Eine solche Eskalation haben wir noch nie erlebt. Diese Widerstandsaktion der Hamas, dass sie den Grenzzaun durchbrechen und in israelische Siedlungen eindringen konnten, hat uns überrascht. Ich rechne mit einer sehr heftigen Antwort Israels. Und zumindest mit einem teilweisen Einmarsch der israelischen Armee. Ich weiss nicht, wie wir uns darauf vorbereiten sollen. Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft und versuche, mit meiner schwangeren Frau Gaza über Ägypten zu verlassen, aber wir kommen nicht bis an die Grenze, und die deutsche Vertretung hier ist nicht erreichbar.»

Ronit Farkash, Bewohnerin des israelischen Dorfes Tkuma

«Ich war am Samstagmorgen mit den Hunden vor dem Dorf spazieren, als die Sirenen losgingen. Zwischen Alarm und Einschlag der Raketen liegen hier nur fünfzehn bis dreissig Sekunden. Unbewohnte Gebiete verteidigt das Abwehrsystem Iron Dome nicht. Also bin ich, so schnell ich konnte, zu den Häusern gerannt. Ich lebe mit meinem Mann und meinen zwei Töchtern im Dorf Tkuma, etwa sieben Kilometer von Gaza entfernt. Wir wussten nicht, was geschah, bis wir über unsere Überwachungskameras einen Pick-up mit Bewaffneten sahen. Wir hatten Glück, das Tor zu unserem Dorf war wegen des Feiertags geschlossen. Sie sind dann weitergefahren. Kurz darauf hörten wir aus dem Nachbardorf Schüsse. Dann kamen langsam die Nachrichten, dass überall bewaffnete Terroristen auf den Strassen seien.

Mein Mann wurde jetzt eingezogen. Ich weiss nicht, wie es weitergehen soll. Viele werden nicht in ihre Dörfer zurückkehren. Sie werden ihre Kinder nicht dort aufziehen, wo ihre Freunde oder Nachbarn abgeschlachtet wurden. Wir vertrauen unserer Regierung nicht mehr, jedes Gefühl von Sicherheit wurde zerstört. Ich will nun, dass die Armee etwas Drastisches unternimmt, dass es diesmal nicht bei Luftangriffen bleibt. Sie soll jedes Mittel einsetzen, um auch den letzten Hamas-Anhänger zu treffen, selbst wenn es auf Kosten Unschuldiger geht.»

Shalom C., Reservist aus Tel Aviv

«Ich war als Reservist an allen Militäroperationen der letzten Jahre beteiligt. Im Libanon und auch in Gaza. Es war für mich selbstverständlich, um meine Familie und Freunde zu schützen. Wir kennen den üblichen Ablauf: Die Hamas oder die anderen Organisationen schiessen Raketen, dann gibt es Luftangriffe, und am Ende verhandeln Katar oder Ägypten einen Waffenstillstand. Doch diesmal ist es anders. Ich bin extrem wütend und traurig. Ich glaube, selbst meine Eltern haben nie eine derart schlimme Situation erlebt. Ich kann nicht ignorieren, wie viel Macht unsere Politiker in den letzten fünfzehn Jahren über die Situation hatten und wie sie der Hamas dabei halfen zu wachsen.

Es gab sehr wohl Möglichkeiten, einen Dialog mit vernünftigeren Stimmen in der palästinensischen Gesellschaft zu suchen. Eine Situation, wie sie heute in Gaza existiert, hätte verhindert werden können. Und wo war die Armee? Offenbar grossteils im Westjordanland, um Siedler zu schützen, die ihren Gottesdienst vor Palästinensern abhielten. Es ist verrückt, wie dünn besetzt die Grenze zu Gaza gewesen sein muss. Ich hoffe, dass es der Armee gelingen wird, die Hamas dieses Mal wirklich zu besiegen. Vielleicht kann sich dann auch die Situation für die Palästinenser wieder verbessern. Ich glaube, dazu braucht es eine Bodenoffensive. Ob ich diesmal selbst gehe, weiss ich noch nicht.»

Hamza Z., palästinensischer Journalist aus Bethlehem

«Seit dieser Krieg begonnen hat, bin ich mit meiner Frau und unseren drei Kindern zu Hause in Bethlehem im Westjordanland. Alle Strassen zu palästinensischen Dörfern und Städten sind gesperrt, mehrere Palästinenser wurden im Westjordanland getötet. Durch die Blockaden werden hier bald die Medikamente und das Essen knapp werden. Die Menschen decken sich mit Vorräten ein, weil alle damit rechnen, dass dieser Krieg lange dauern wird.

Wir wohnen nahe Jerusalem. In den letzten Tagen hat unser Haus wegen der Raketenexplosionen gewackelt. Es gibt Berichte über israelische Siedler, die Palästinenser angreifen oder drohen, uns zu töten. Niemand beschützt uns, weder die Palästinensische Autonomiebehörde noch die internationale Gemeinschaft. De facto regieren die Siedler das Westjordanland, die Armee hilft ihnen dabei. Die Palästinenser hier unterstützen deshalb den Widerstand in Gaza. Ja, ich spreche von Widerstand. Endlich ist jemand da, der uns verteidigt. Wir hatten nie eine eigene Armee, die uns vor den Israelis hätte schützen können. Diese wahnsinnige israelische Regierung, deren Minister die jüdische Bevölkerung wie Spielsteine behandeln und uns wie Tiere, wird damit niemals durchkommen.»