Ständeratswahl Schaffhausen: Gelingt eine linke Überraschung?
Die beiden weit rechts politisierenden Ständeräte Thomas Minder und Hannes Germann sehen sich mit einer aussichtsreichen Konkurrenz aus der SP konfrontiert.

Die Gegend rund um die SBB-Haltestelle Neuhausen Rheinfall wirkt wie ein Kondensat der Schweiz: Hier trifft die Aggloschweiz auf die Bilderbuchschweiz, trifft Waffenindustrie auf Immobilienbusiness und Tourismusbranche. Zwischen der SIG-Sauer-Waffenfabrik, Baustellen und eben fertiggestellten Hochhäusern mit Blick auf den Rheinfall schart sich auf dem Platz über der Haltestelle eine Gruppe von Senior:innen um Simon Stocker. In seinen eng geschnittenen Hosen, den eleganten Lederschuhen, Blazer und Hemd würde er auch als Chef eines KMU durchgehen. Doch Stocker ist als Leiter der Fachstelle Alterspolitik des Verbands Gerontologie Schweiz hier und führt im Auftrag der Gemeinde Neuhausen ein Mitwirkungsverfahren mit Betagten durch. Die älteren und alten Menschen sagen, wo es Verbesserungen beim ÖV braucht oder wie es um das Angebot bei Alterswohnungen steht. Stocker hört zu.
Wenn der 43-Jährige derzeit im Kanton Schaffhausen unterwegs ist, ist er aber immer auch Wahlkämpfer. Stocker kandidiert als Sozialdemokrat für den Ständerat. Sein berufliches Engagement für alte Menschen ist beste Wahlwerbung. Um im bürgerlichen Schaffhausen im Oktober einen der beiden bisherigen Bürgerlichen zu verdrängen, braucht es jede Stimme.
Weshalb Stocker diese zusammenbekommen könnte, zeigt sich wenige Minuten später. Auf der Strasse fährt eine Bimmelbahn voller Tourist:innen Richtung Rheinfall. Der Fahrer ruft Stocker lachend etwas zu. Stocker winkt lachend zurück. In Schaffhausen kennen den «Stöge» fast alle, sei es als Sohn des früheren Präsidenten der kantonalen SP, als einstigen Präsidenten des städtischen Jugendtreffs, als späteren kantonalen Jugendbeauftragten und Stadtparlamentarier oder schliesslich als Vertreter der Alternativen Liste (AL) in der Stadtregierung. Nach acht Jahren hatte Stocker genug vom Exekutivamt – und zog 2020 nach Zürich. Nun ist er mit seiner Frau und dem kleinen Sohn zurück. Die AL ging inzwischen in der SP auf.
Genug von Minder
Politik sei Timing, sagt Stocker. Und aktuell stimme dieses. Ja, es werde sehr schwierig, räumt er ein, und doch: «Sogar Bürgerliche auf dem Land sagen mir, dass es eine Veränderung bei den beiden Ständeratssitzen brauche.» Es wäre tatsächlich an der Zeit: SVP-Mann Hannes Germann politisiert streng auf Parteilinie und sorgte zuletzt für Schlagzeilen, als er sagte, er hätte lieber ein Handballspiel besucht, als «schier endlos» über Massnahmen gegen Vergewaltigungen zu debattieren. Germann dürfte dennoch problemlos zum sechsten Mal wiedergewählt werden. Stocker zielt deshalb auf den Sitz von Thomas Minder. Dieser wurde durch die von ihm 2008 lancierte nationale «Abzockerinitiative» bekannt und daraufhin 2009 als Parteiloser in den Ständerat gewählt, wo er seither ebenfalls in der SVP-Fraktion politisiert.
Wie Recherchen der «Schaffhauser AZ» zeigen, herrschen in Minders Firma Trybol, die in Neuhausen Mundwasser und Zahnpasta herstellt, miserable Arbeitsbedingungen. Die Löhne sind tief, eine fünfte Ferienwoche gibt es ebenso wenig wie einen 13. Monatslohn – und Minder ist dafür bekannt, Mitarbeitende derart zu massregeln, dass diese in Tränen ausbrechen. Im Ständerat fällt Minder seit zwölf Jahren vor allem mit ausländerfeindlichen Vorstössen und Voten auf und überholt dabei selbst die Kolleg:innen der SVP-Fraktion rechts. So votierte er als einziger Ständerat für die kolonialistische Abschottungsinitiative Ecopop. Und in seinem neusten, vor wenigen Tagen eingereichten Vorstoss fordert er, Asylsuchende in beschleunigten Verfahren nach Afghanistan auszuschaffen und dazu mit der Talibanregierung ein Abkommen abzuschliessen.
Eingemittet, gemässigt
Demgegenüber steigt Stocker mit wohlklingenden Forderungen wie «eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf» oder «anständige Renten» in den Wahlkampf. Prononciert linke Positionen sucht man bei Stocker aber vergeblich. Dieser sei ein ziemlich eingemitteter Exekutivpolitiker geworden, sagt Marlon Rusch, Journalist bei der «Schaffhauser AZ». Im Ständeratswahlkampf kommt ihm dies zugute.
Stocker selbst bezeichnet sich als «gemässigten SPler», der «kein Weltverbesserer ist und auch nicht der Sozialdemokratie zum grossen Durchbruch verhelfen will». Was treibt ihn dann an? «Ich will konkrete Sachen bewegen, deren Umsetzung ich noch selber miterleben kann.» So habe er als Vorsteher des Ressorts Soziales und Sicherheit die Alterspolitik vorwärtsgebracht, Quartiertreffs aufgebaut, ein Familienzentrum geschaffen – und die Feuerwehr und die Polizei modernisiert. Auf die Frage, ob er denn nicht gefremdelt habe mit der Polizei, kommt die Antwort blitzschnell: «Überhaupt nicht! Keineswegs!»
«Moment», sagt Stocker dann plötzlich. Bald werden in der Schulaula 45 Senior:innen zur Mitwirkung eintreffen. Er eilt zu seiner Tasche und holt Vasen und Blumen hervor und platziert diese auf den Tischen. Eine kleine Geste, die zu ihm zu passen scheint: Simon Stocker ist am Wohl seiner Mitmenschen ernsthaft interessiert – ohne dabei aber die eigene Aussenwirkung aus den Augen zu verlieren.