Wahlaufruf: Plötzlich diese frische Luft

Nr. 41 –

Gegen die Lobby-, Banken- und Autoschweiz hilft nur eines: Am 22. Oktober den gesellschaftlichen Aufbruch wählen.

 die Grünen Sophie Michaud Gigon und Kilian Baumann machen ein Selfie im Nationalratssaal
Meine erste Bundesratswahl: Die Grünen Sophie Michaud Gigon und Kilian Baumann wurden kurz vor dem 11. Dezember 2019 in den Nationalrat gewählt.   Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Routiniert plätschert der Wahlkampf vor sich hin. So viele Kandidat:innen wie nie lächeln von den Plakaten um die Wette. Die SP hat wieder ihre Telefonaktion gestartet. Die Grünen und die Klimabewegung haben zu einer grossen Kundgebung nach Bern mobilisiert. Noch zehn Tage, dann kommt einer der wohl unspektakulärsten und debattenärmsten Wahlgänge der letzten Jahre ins Ziel. Alles ganz normal also? Nein.

Im rechtsbürgerlichen Lager haben in den letzten Monaten Bewegungen stattgefunden, die noch viel zu wenig diskutiert und erst recht nicht als Gefahr begriffen worden sind. FDP und SVP haben sich gemeinsam auf einen harten Konfrontationskurs begeben. Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie in der Asylpolitik, schon immer ein Gradmesser für die Grosszügigkeit im Denken. Während die FDP am lautesten dagegen protestierte, Frauen aus Afghanistan Asyl zu gewähren, fordert die SVP gleich Internierungslager für Geflüchtete. Auch strategisch gibt es keine Berührungsängste mehr: Die FDP unterhält in der Hälfte der Kantone Listenverbindungen mit der SVP. Diese wiederum paktiert mit Coronaleugner:innen und distanziert sich – wie bei den Verbindungen zur Jungen Tat – nicht einmal mehr von Neonazis (vgl. «Neue Freunde, alte Liebe»).

Aufbruch und Blockade

Will man nachzeichnen, wie es zu dieser Versammlung am rechten Abgrund gekommen ist, blättert man am besten vier Jahre zurück. Damals herrschte plötzlich Aufbruchsstimmung in der Wandelhalle im Bundeshaus. Draussen vor den Fenstern strahlte zwar weiterhin der Alpenfirn, als müsse er sich täglich für seinen Einsatz in der Nationalhymne bewerben. Doch drinnen im ehrwürdigen Interieur ertönten plötzlich neue Stimmen. So viele Frauen wie nie waren im Herbst 2019 gewählt worden, viel mehr Jüngere auch. Die Wahl, die den Grünen und auch den Grünliberalen einen historischen Zuwachs gebracht hatte und als «Klimawahl» und «Frauenwahl» in die Schweizer Geschichte einging, veränderte zuerst einmal die Atmosphäre. Das Bundeshaus wirkte weniger muffig und machohaft, stattdessen frischer, feministischer, zukunftsgerichteter.

Und der Aufbruch führte durchaus zu Erfolgen: zur Reform des Sexualstrafrechts etwa. Doch bei sozialen Themen, bei der Altersvorsorge beispielsweise, gab es kaum Fortschritte für die Geringverdienenden und den Mittelstand. Dafür am Ende eine Rentenalterhöhung für die Frauen. Viele gute Ideen, die im Nationalrat lanciert worden waren, blockierte der Ständerat. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Während Mitte-Partei, FDP und SVP Milliarden zur Rettung der ruinierten Grossbank Credit Suisse billigten, lehnten sie es in der letzten Session vor den Wahlen schnöde ab, den Aufenthalt von abgewiesenen Asylsuchenden in Nothilfe zu legalisieren. Atmosphärisch mochte sich 2019 einiges verändert haben – doch die Machtverhältnisse in der seit jeher bürgerlich regierten Schweiz blieben wie gehabt.

Der Verkehr der Zukunft

Dennoch muss dieser Aufbruch insbesondere der FDP in die Knochen gefahren sein. Aus Angst um den zweiten Bundesratssitz suchte sie ihr Heil in der Anbiederung an die SVP. Die wiederum wirkte nach ihrer Wahlniederlage 2019 desorientiert wie nie – und kam auf einem von der Partei bisher weniger bewirtschafteten Weg zurück ins Geschäft: über die Klimapolitik. Unter Beihilfe von Bauernverbandspräsident Markus Ritter, dem mutmasslich machttrunkensten aller Lobbyist:innen in Bundesbern, gewann sie das Referendum gegen das CO₂-Gesetz. Von da an spielte sie wieder ihre alten Platten gegen Ausländer:innen und Geflüchtete.

Die Positionierung der beiden Rechtsparteien ist allerdings nicht nur selbstgewählt, sie passt auch ins Bild, das sich zuletzt quer durch Europa zeigte: Von Schweden bis Italien, von Polen bis Spanien, überall auf dem Kontinent sind Parteien mit autoritären Verheissungen auf dem Vormarsch – und das Zentrum biedert sich an. Wobei gerade die Parlamentswahl in Spanien vom Sommer ein gutes Beispiel ist, wie auch in der Schweiz noch in letzter Minute ein Rechtsruck gestoppt werden könnte: wenn wirklich alle linken und progressiv gestimmten Menschen, die über das Privileg des Stimmrechts verfügen, am 22. Oktober geschlossen zur Wahl gehen.

Gewiss, der Parlamentarismus ist zäh, von Kompromissen geprägt. Streiks und Demos, Bildungs- und Solidaritätsarbeit sind mindestens so wichtig. Aber vielleicht kann man es auch einmal positiv sagen: Die Linke in der Schweiz kann froh und auch ein wenig stolz sein, dass an der Spitze ihrer grossen Parteien ein Generationenwechsel gelungen ist, allem medialen Bashing speziell gegenüber den Sozialdemokrat:innen zum Trotz. Ihre Parlamentarier:innen verfolgen zumeist eine unbestechliche Politik für die Interessen der breiten Bevölkerung.

Genau darin liegt schliesslich das grösste Problem im Bundeshaus. Zwar gibt es keine offene Korruption. Aber viele Politiker:innen sind reine Lobbyvertreter:innen, die für die Kranken- und Pensionskassen, Banken und Versicherungen weibeln. Und natürlich auch für die Autoindustrie. Gerne geht – von wegen Angriff auf das CO₂-Gesetz – vergessen, dass mit Walter Frey der grösste Autoimporteur des Landes die SVP sponsert.

Womit wir auch schon bei den Gründen sind, warum es eine Stärkung der Linken braucht: Im Kampf gegen die Klimaerhitzung kommt in der nächsten Zeit endlich das Tabuthema Nummer eins auf die Traktandenliste: das Auto. Während bei den Gebäuden und der Industrie die Treibhausgasemissionen in den letzten Jahrzehnten gesunken sind, bleiben sie im Verkehr fast unverändert hoch. Der Strassenverkehr ist für ein Drittel des Schweizer CO₂-Ausstosses verantwortlich. Dennoch beschlossen National- und Ständerat in der Herbstsession einen Ausbau der Autobahnen für fünf Milliarden Franken.

Mehr Weltzugang

Die Umweltverbände haben bereits das Referendum ergriffen. Es dürfte ein Abstimmungskampf mit ungeahnten Allianzen folgen, zwischen Städter:innen und Landwirt:innen, die um die Zerstörung der Innenstädte wie des Kulturlandes fürchten. Es geht dabei um nichts weniger als die schöne Aufgabe, den Verkehr der Zukunft zu erfinden. Das Auto, dieses Sinnbild des erdölgetriebenen Individualismus des 20. Jahrhunderts, hat darin nur beschränkt Platz.

Das zweite grosse Thema sind die steigenden Lebenskosten für fast alle, von den Mieten bis zu den Krankenkassenprämien. Bei der Finanzierung des Gesundheitswesens ist die Zeit günstig wie nie, die unsolidarischen Kopfprämien und den Pseudowettbewerb zwischen den Kassen abzuschaffen. Zum sozialpolitischen Showdown kommt es bereits im nächsten Jahr mit den Abstimmungen zur Altersvorsorge: Gibt es eine 13. Altersrente – oder soll bis 67 Jahre gearbeitet werden?

Diese Frage ist angesichts des soliden Umverteilungsmechanismus der AHV einfach zu beantworten: Ein Ausbau der Renten lässt sich finanzieren. Weit komplizierter bleibt eine andere Frage: wie sich die Sozialwerke entwickeln können, wenn das Wirtschaftswachstum angesichts der Klimaerhitzung gedrosselt werden soll. Oder umgekehrt: wie der ökologische Umbau sozialverträglich gestaltet werden kann, damit er kein hippes Mittelschichtsprojekt bleibt. Auch Verzicht muss man sich bekanntlich leisten können. Zu oft noch reden Klimabewegung und Gewerkschaften aneinander vorbei.

Erst recht zu wenig wird schliesslich innerhalb der Schweizer Linken über die Welt diskutiert: Dass die offizielle Schweiz zum Krieg gegen die Ukraine keine klare Haltung bezieht, hat auch mit einem Teil der Linken zu tun, der gerne das hohe Lied der Neutralität mitsingt, um sich nicht unbequemen Fragen stellen zu müssen, etwa bei der Waffenweitergabe. Auch das Abseitsstehen in Europa zeitigt längst seine Folgen – weniger wirtschaftlich als mental, weil es das Denken im nationalen Rahmen stärkt. Zur Provinzialität trägt auch das beschränkte Bürger:innenrecht bei: Wenn die meisten Migrant:innen kein Stimmrecht haben, dann fehlt es auch am Weltzugang in Bundesbern.

Vor der Wahl vom 22. Oktober sollte man sich deshalb noch einmal daran erinnern, wie frisch die Luft damals roch, 2019, als sich plötzlich Bevölkerungsteile des Parlaments bemächtigten, die dort zuvor zu wenig vertreten waren. In diesem Sinn ist Politik eben immer auch eine Frage des Geschmacks.