Israel und Palästina: Das Dilemma der Kriegslogik
Sieht man die Bilder aus Gaza, kann man nicht anders, als einen Waffenstillstand zu fordern. Wenn man sieht, wie ein Vater auf einem Schutthaufen nach seinen Kindern ruft – dort, wo kurz zuvor noch Häuser standen; wenn man sieht, wie Eltern über ihren getöteten Neugeborenen zusammenbrechen, wie Ärzte in Krankenhäusern angesichts der ungeheuren zivilen Opferzahlen in Tränen ausbrechen – dann ist es unmenschlich, nicht zu denken: Dieser Krieg muss gestoppt werden. Sofort.
Einen Waffenstillstand zu fordern, ergibt nicht nur aus menschlichen, sondern auch aus strategischen Gründen Sinn: Es kann sein, dass Israel eine Art Sieg über die radikalislamische Hamas, die seit fünfzehn Jahren den Gazastreifen kontrolliert, erringen mag. Die Hamas als Ideologie jedoch wird sich nicht mit militärischen Mitteln auslöschen lassen.
Hinzu kommt, dass Israel bislang keinen Plan formuliert hat, was am Tag danach passieren soll. Zuletzt liess Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verlauten, Israel werde bis auf unbestimmte Zeit «die Verantwortung für die Sicherheit» im Gazastreifen tragen. Das tönt äusserst vage. Ein Plan, wie die Hamas abgelöst werden und was danach kommen soll, ist nicht erkennbar.
Und dann wäre da noch die grosse, schon so oft gestellte Frage, die noch nie so häufig unbeantwortet blieb wie im vergangenen Monat, seit dem grauenhaften Terrorangriff der Hamas auf Israel, der die Welt aus den Fugen hob. Diese Frage, die sich jetzt auch viele angesichts der Bombardierungen und der humanitären Katastrophe in Gaza stellen: Wie sollen Israelis und Palästinenser:innen noch als Nachbar:innen zusammenleben, am Tag danach?
Der Krieg führt nicht nur zu einer humanitären Katastrophe für die Palästinenser:innen im Gazastreifen, sondern ist auch fatal für Israel. Zuerst wegen der israelischen Geiseln, die die Hamas weiterhin im Gazastreifen festhält. Aber auch weil die internationale Stimmung längst gekippt ist. Viele werfen Israel auf den Strassen und in den sozialen Medien Genozid im Gazastreifen vor. Dass in der israelischen Regierung eine Reihe rechtsextremistischer Fanatiker:innen sitzen, von denen einer gar eine Atombombe auf Gaza für eine Option hält, ist da nur das sprichwörtliche Öl ins Feuer.
Zugleich darf nicht ausgeblendet werden, dass die Hamas die Zivilbevölkerung als Schutzschild missbraucht und ihre Quartiere neben Kindergärten und unter Spitälern einrichtet. Auch deshalb kommen Tausende Zivilist:innen ums Leben. Und die Bedrohung bis hin zur Auslöschung Israels hält an: So hat einer der Köpfe der Hamas vor wenigen Tagen geschworen, dass sie Angriffe wie den vom 7. Oktober wiederholen werde, bis Israel von der Landkarte verschwunden sei.
Die israelische Regierung steckt in einem Dilemma: Wenn sie auf die Forderungen nach einem Waffenstillstand eingeht, akzeptiert sie, dass die Hamas weiter den Gazastreifen kontrolliert und von dort aus Israel bedroht. Wenn sie die Bombardements fortführt, macht sie sich bei allem Recht auf Selbstverteidigung weiterer Kriegsverbrechen schuldig und isoliert sich international.
Ein Ausweg aus der Kriegslogik kann nur von unten kommen: aus der israelischen Protestbewegung gegen Netanjahu, die sich nach der Schockstarre vom 7. Oktober wieder neu formiert, wie auch aus der palästinensischen Zivilbevölkerung, die der Hamas die Unterstützung verweigert. Und von aussen, durch internationale Vermittlung. Noch aber ist keine Lösung für die Zeit nach der Hamas auf dem Tisch. Die USA machen sich für eine Übernahme der Verantwortung für Gaza durch die palästinensische Autonomiebehörde stark, andere stellen sich eine Kontrolle internationaler Kräfte, darunter auch arabische Länder, vor. Nichts deutet bisher darauf hin, dass die Hamas sich auf eine solche Lösung einliesse.
Bis es so weit ist, hilft gegen das Grauen nur eines: Nahrung, Wasser und medizinische Hilfslieferungen für den schmalen Küstenstreifen, in dem sich ein Weltkonflikt ereignet.