Vertreibung aus Pakistan: Auf der Flucht zurück
Fast vier Millionen Afghan:innen leben im Nachbarland Pakistan. Nun mussten Hunderttausende von ihnen die Koffer packen. Darunter auch die Familie von Daftar Khan.

In einer kalten Winternacht, 44 Jahre nach seiner Flucht über die schneebedeckten Berge des Hindukusch, läuft der 84-jährige Daftar Khan durch ein kleines Grenzhäuschen über die afghanisch-pakistanische Grenze. Neben ihm tragen seine beiden Enkelkinder schwere Pappkartons in den Händen. Es ist das erste Mal, dass sie ihr Heimatland sehen.
Khan, ein kleiner Mann mit langem weissem Rauschebart, stellt seinen kakifarbenen Rucksack auf den schlammigen Boden und stützt sich auf seinen Gehstock aus Bambus. Regen rinnt ihm ins Gesicht. Sein altes Nokia-Telefon klingelt. Am anderen Ende, fast hundert Kilometer entfernt, weiter westlich im pakistanischen Charsada, spricht sein jüngster Neffe. Er weint. «Du brauchst keine Angst mehr zu haben», sagt Khan beruhigend, «wir sind jetzt in Sicherheit in unserem eigenen Land.»
Hunderttausende Afghan:innen mussten Pakistan in den letzten Wochen verlassen. Die Regierung plant gar, rund 1,7 Millionen afghanische Geflüchtete ohne Papiere zurückzuschicken. Pakistan beherbergt mit fast vier Millionen Menschen die grösste afghanische Diaspora weltweit. Während der letzten vier Jahrzehnte, in denen das Land fast kontinuierlich im Kriegszustand war, flohen immer wieder Afghan:innen ins östliche Nachbarland.
Schon im Herbst hatte die pakistanische Regierung afghanische Staatsangehörige ohne legalen Aufenthaltsstatus dazu aufgerufen, das Land bis zum 1. November freiwillig zu verlassen. Viele der Geflüchteten berichten seitdem von Zwangsabschiebungen und Inhaftierungen. Bis zu 300 000 Menschen sind gemäss Amnesty International bereits gegangen. Hunderttausende könnten noch folgen. Die Menschenrechtsorganisation ruft die pakistanische Regierung dringend dazu auf, «die Schikanierung, Inhaftierung und Abschiebung von Afghan:innen zu stoppen», da sie damit gegen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verstosse.
Im Dunkeln über den Hindukusch
An der afghanisch-pakistanischen Grenze in Torkham, fast 230 Kilometer östlich von Kabul, steigt Daftar Khan in dieser Nacht mit seiner Familie, zweien seiner vier Söhne, seinen Schwiegertöchtern und deren Kindern, in einen weissen Omnibus, der sie in ein temporäres Flüchtlingslager bringen soll. Am Nachmittag zuvor hatte die Familie ihr Haus in Pakistan leer geräumt und sich auf den Weg zur Grenze gemacht. An den Fensterscheiben rauschen die schwarzen Umrisse des Hindukuschgebirges vorbei, bunte Laster, mit Kohle beladen, stehen am Strassenrand. Die Stimmung im Bus ist gedrückt. Khan starrt schweigend nach vorne.
Er war vierzig Jahre alt, als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte. Mit seiner Familie lebte er in einem kleinen Ort in der Nähe der Stadt Dschalalabad im Osten Afghanistans. Der Krieg zwischen den sowjetischen Truppen und den afghanischen Befreiungskämpfern, den Mudschaheddin, breitete sich schnell im ganzen Land aus, vor allem die Zivilbevölkerung litt darunter. Ein Jahr nach Kriegsbeginn beschliesst die Familie, ins Nachbarland Pakistan zu fliehen. Sie marschiert fünf Tage lang im Dunkeln über die Berge, immer mit der Angst im Rücken, von russischen Helikoptern entdeckt und verfolgt zu werden. Khan erzählt, dass seine Gelenke noch Wochen danach schmerzten.
Millionen von Afghan:innen fliehen damals über die Grenze, und viele von ihnen bleiben auch nach Kriegsende in Pakistan. Nachdem die Sowjetunion abgezogen ist, bricht in Afghanistan ein blutiger Bürgerkrieg aus, 1997 kommen die Taliban das erste Mal an die Macht, 2001 marschieren die internationalen Truppen ein. «Frieden», sagt Khan, habe in seiner Heimat eigentlich nie geherrscht.
Von Bulldozern platt gewalzt
In Pakistan lebt die Familie für einige Jahre in einem der vielen Flüchtlingscamps in der Nähe der Stadt Peschawar. Später erwirbt Khan ein Grundstück und baut ein Haus. Zwei seiner Söhne heiraten Frauen mit pakistanischer Staatsbürgerschaft. Nur sein Aufenthaltsstatus wird in all den Jahren von den Behörden nie geklärt.
Khan sagt, die Pakistaner:innen seien gute Menschen. Sie hätten ihn damals herzlich aufgenommen. «Es war unser zweites Zuhause», sagt er. Um so mehr schmerze ihn, dass sich die Stimmung gegenüber Afghan:innen in den letzten Jahren immer weiter verschlechtert habe. Er gibt den Politiker:innen die Schuld daran. Über Jahre hinweg habe die Regierung Ressentiments gegenüber Afghan:innen geschürt und sie stets für alles verantwortlich gemacht, was schlecht laufe.
In den letzten Monaten kamen mehrmals Polizei und Armee zu seinem Haus, forderten ihn und seine Familie auf, das Land zu verlassen. «Sie drohten uns offen mit Gewalt, sollten wir nicht verschwinden», sagt Khan. Seine Söhne seien mehrmals von der Polizei verhaftet worden und nur mit der Hilfe von pakistanischen Freunden wieder freigekommen. Nach der Frist vom 1. November habe die Armee mehrere Häuser anderer Afghan:innen in ihrer Nachbarschaft zerstört. «Irgendwann trauten wir uns nicht mehr aus dem Haus», sagt er. Die Familie beschliesst, das Land zu verlassen.
Auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International berichten von Übergriffen, Verhaftungen und Deportationen. Im ganzen Land wurden Häuser beschlagnahmt. In den vorwiegend von Afghan:innen bewohnten Stadtvierteln am Rand der Hauptstadt Islamabad wurden ganze Strassenblocks von Bulldozern zerstört. Die Regierung gibt an, dass sie mehr als 34 Abschiebegefängnisse eingerichtet habe, in denen Menschen ohne Papiere bis zu ihrer Ausschaffung festgehalten werden sollen. Zudem gibt es Beschränkungen für die Mitnahme von Bargeld und Nutztieren.
Vom Vorhaben der Regierung könnten auch jene betroffen sein, die erst nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 nach Pakistan geflohen sind – laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk rund 600 000 Menschen. Bisher hatte die Regierung registrierte Flüchtlinge zwar von den Ausschaffungen ausgenommen, doch Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass sich dies in Zukunft ändern könnte.
Die pakistanische Regierung begründet die Ausschaffungen vor allem mit der verschärften Sicherheitslage im Grenzgebiet zu Afghanistan. Zuletzt verübten die pakistanischen Taliban (TTP) immer wieder Anschläge im ganzen Land. Hunderte Menschen, vor allem Polizisten und Soldaten, wurden im vergangenen Jahr Opfer von Terroranschlägen. Die Regierung von Premierminister Anwar ul Haq Kakar macht die afghanische Diaspora für die Anschläge verantwortlich. Damit will sie vermutlich einerseits Sympathien in der Bevölkerung sammeln – im Februar soll in Pakistan ein neues Parlament gewählt werden – und andererseits Druck auf die Regierung in Kabul ausüben.
Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern hatten sich zuletzt zusehends verschlechtert. Islamabad wirft den Taliban in Kabul vor, den pakistanischen Taliban Schutz zu gewähren, und behauptet, dass die Anschläge von afghanischem Boden aus geplant und ausgeführt würden. Die Talibanvertreter bestreiten derweil, dass TTP in Afghanistan präsent sei. Sie behaupten, der Grossteil der pakistanischen Taliban operiere auf pakistanischem Gebiet. Die afghanischen Geflüchteten in Pakistan geraten zunehmend zwischen die Fronten beider Länder.
Aufs Schlimmste vorbereitet
Am nächsten Tag nach der Fahrt zurück über die Grenze ist Daftar Khan früh aufgestanden. Gleissende Sonnenstrahlen tauchen das – von der Talibanregierung mithilfe der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Welternährungsprogramms (WFP) errichtete – Flüchtlingslager in helles Morgenlicht. Khan läuft durch die blauen Zelte mit den «China Aid»-Logos, vorbei an vollgepackten Lastwagen mit den Habseligkeiten der Vertriebenen. Arbeiter bohren Löcher für Trinkwasserbrunnen in den Boden, Talibankämpfer errichten einen Telekommunikationsmast, vor einem grossen TV-Bildschirm sitzen Kinder und schauen einen Film auf Persisch.
Auf einer Anhöhe oberhalb des Lagers hält Khan vier seiner Fingerkuppen auf das neongrün leuchtende Feld eines biometrischen Scanners. Es ist die erste Registrierungsstelle des Islamischen Emirats. «Kannst du beweisen, dass du Afghane bist?», fragt der Beamte. «Ich habe nur diese Identitätskarte von vor vierzig Jahren», sagt Khan. Der Beamte schaut prüfend, nickt und füllt dann ein Formular aus. Khan unterschreibt. Er erhält eine afghanische SIM-Karte und ein Startgeld von umgerechnet hundert Schweizer Franken. «Willkommen zurück in Afghanistan», sagt der Mann.
«Wir sind auf das Schlimmste vorbereitet», sagt Mullah Sultan Mutaker. Er ist ein kleiner Mann mit dunklem Turban und ruhiger Stimme. Der Koordinator des Camps sitzt etwas abseits des Lagers in einem Armeezelt, in dem seine Mitarbeiter ein kleines Medienzentrum errichtet haben. Stative und Kameras stehen und liegen durcheinander auf dem Boden. «Afghanistan ist nicht Europa», sagt er. Fast alle der Ankommenden hätten irgendwo im Land Familie, bei der sie in der ersten Zeit unterkommen könnten. Derzeit seien etwa 15 000 Menschen im Camp. Täglich kämen circa 3500 Menschen neu an. Jene, die nicht wüssten, wohin, müssten zunächst bleiben, bis ihnen von der Regierung Land zugesprochen werde. Die Behörden versuchten, die Menschen zu registrieren, die Herkunft festzustellen und zu klären, wo diese in Zukunft leben könnten.
Hilfsorganisationen wie das International Rescue Committee warnen jedoch, dass sich die Situation in den nächsten Monaten weiter verschärfen dürfte, sollte die Zahl der Ankommenden kontinuierlich so hoch bleiben. Afghanistan befindet sich in einer der grössten humanitären Krisen weltweit, fast zwei Drittel der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Wirtschaft, von internationalen Sanktionen und Restriktionen belegt, liegt am Boden. Sie ist kaum in der Lage, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Gleichzeitig rückt der Winter näher, nachts fallen die Temperaturen derzeit auf unter zehn Grad.
Daftar Khan und seine Familie sind an diesem Morgen, trotz allem, zuversichtlich. Kurz nach dem Mittag, keine zwölf Stunden nachdem die Familie das Land betreten hat, schnüren sie ihr gesamtes Hab und Gut auf einem bunt geschmückten Lkw fest: Kühlschränke, Betten, Kochgeschirr und Teppiche. Khan will bei Verwandten in der Nähe von Dschalalabad unterkommen und dann nach einem Grundstück suchen. «Du kannst tausend Jahre in einem fremden Haus wohnen, doch du wirst immer ein Fremder bleiben», sagt er. Dann saust der Lkw davon.