Bürgerkrieg im Sudan: «Die Welt hat beschlossen, uns zu vergessen»
Acht Monate nach Kriegsausbruch ist die Lage im Sudan katastrophal. Die Analystin Kholood Khair über die Gefahr eines Staatszerfalls, mangelnde internationale Unterstützung und das, was ihr Hoffnung gibt.
WOZ: Frau Khair, bei unserem letzten Gespräch (siehe WOZ Nr. 23/23) dauerte der Machtkampf im Sudan zwischen den Streitkräften von General Burhan und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) von General Daglo, genannt Hemeti, erst einige Wochen. Nun, fast acht Monate nach Kriegsbeginn, spricht die Uno von «einem der schlimmsten humanitären Albträume der jüngeren Geschichte». Was ist geschehen?
Kholood Khair: Das Ausmass der Zerstörung ist gewaltig, der Krieg hat ja direkt in der Hauptstadt Khartum begonnen. Gekämpft wird bis heute vor allem dort sowie in der westlichen Region Darfur und im zentral gelegenen Kurdufan. Aber betroffen ist das ganze Land, denn Millionen sind aus den Kampfgebieten in die übrigen Landesteile geflohen. Offiziell ist die Rede von über 6 Millionen Vertriebenen, davon sind 1,2 Millionen ins Ausland geflohen. Laut Gruppen, die vor Ort Hilfe leisten, ist das aber sehr konservativ geschätzt.
Sie konnten im April fliehen und leben derzeit in London. Haben Sie noch Familie im Sudan?
Die Familie meines Vaters lebt im Bundesstaat Gezira, im Zentrum des Landes. Die Familie meiner Mutter ist von Khartum in den Norden geflohen. Dort müssen sie für viel Geld eine Unterkunft mieten, die Nachfrage ist riesig. Anfangs glaubten sie, wie viele Leute, der Armee, die behauptete, der Krieg würde nur wenige Tage dauern. Dann war die Rede von zwei bis drei Wochen. Mittlerweile ist klar, dass er so schnell nicht enden wird. Aber die Flucht ins Ausland ist schwierig.
Der Armeeführer Burhan und andere Vertreter des Militärrats sind aus der Hauptstadt nach Port Sudan, in den Nordosten, geflohen. Deutet das nicht darauf hin, dass die RSF den Krieg bald gewinnen könnten?
Nein, zumindest nicht so schnell. Auch wenn die RSF mehr finanzielle Mittel, bessere Waffen und die bessere Infanterie haben, hat die Armee die effektivere Luftwaffe und mehr Rückhalt in der Bevölkerung. Sie wird die Hauptstadt nun wohl noch stärker bombardieren, um diese zurückzuerobern. Denn wenn die Armee Khartum nicht kontrollieren kann, kann sie sich schwer als einzige De-facto-Autorität im Land darstellen.
Die Armee kontrolliert heute vor allem den Norden und Osten des Landes, die RSF grosse Teile Khartums und den Westen. Zeichnet sich eine Spaltung wie im Nachbarland Libyen ab?
Die Situation ähnelt der in Libyen bereits. Zwar gibt es im Sudan noch nicht zwei Regierungen, aber schon zwei unterschiedliche Einflussgebiete. Die Lage könnte sich weiter verschärfen, hin zum vollständigen Zerfall des Staates, mit vielen verschiedenen Einflusszonen. Weder die Armee noch die RSF haben genug Ressourcen, um den ganzen Sudan zu besetzen. Andere bewaffnete Gruppen nutzen die dadurch entstehenden Machtvakuen. Eine der grössten Rebellenbewegungen im Land, die SPLM-N, kontrolliert bereits Teile des Südens.
Besonders dramatisch ist die Lage im westsudanesischen Darfur, wo ein Krieg schon vor zwanzig Jahren 300 000 Menschenleben gefordert hat. Nun verüben RSF und verbündete Milizen dort offenbar erneut ethnisch motivierte Massaker an der Zivilbevölkerung.
Der Krieg in Darfur ging nie wirklich zu Ende. Zwar haben 2020 einige Rebellengruppen ein Friedensabkommen mit der damaligen Übergangsregierung unterzeichnet, aber nur die schwächsten. Die RSF, die ihre Hochburg in Darfur haben, sind der grösste Aggressor in der Region. Deshalb haben sich manche Gruppen nun gegen sie zusammengeschlossen, vor allem basierend auf ethnischer Zugehörigkeit. Diese spielt in Darfur weiterhin eine wichtige Rolle. Denn die Probleme, die den Darfur-Konflikt ausgelöst haben – dass sich ein Teil der Bevölkerung politisch und wirtschaftlich von der Zentralregierung marginalisiert fühlte –, bestehen fort. Das Abkommen von 2020 hat daran nichts geändert. Nun nutzen vor allem arabische Milizen den Krieg als Vorwand, um alte Rechnungen zu begleichen. Sie verüben furchtbare Gräueltaten an der nichtarabischen Bevölkerung, zum Teil auf Befehl der RSF.
25 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der sudanesischen Bevölkerung, brauchen mittlerweile humanitäre Hilfe. Doch lokale Akteur:innen beklagen fehlende Gelder. Die internationale Aufmerksamkeit liegt woanders: auf dem Gazastreifen und der Ukraine.
Viele Sudanes:innen fühlen mit den Menschen in diesen Kriegsgebieten. Aber die internationale Gemeinschaft muss zeigen, dass sie sich mehrerer Krisen gleichzeitig annehmen kann. Als 2003 der Darfur-Krieg ausbrach, war die internationale Aufmerksamkeit sehr gross, trotz der Kriege in Afghanistan und im Irak zur gleichen Zeit. Aber heute, wo der Sudan eine der schlimmsten humanitären Katastrophen weltweit erlebt, hat die Welt beschlossen, uns zu vergessen.
Wird der Sudan zunehmend als aussichtsloser Fall wahrgenommen?
Absolut. Aber ich wehre mich gegen diese Wahrnehmung. Denn die internationale Gemeinschaft war Teil des Prozesses, der zu diesem Krieg geführt hat. Sie hat nach dem Sturz von Umar al-Baschir 2019 immer wieder auf politische Lösungen gedrängt, in denen Burhan und Hemeti entscheidende Rollen spielen, und die beiden Generäle, die dann den Krieg gestartet haben, dadurch politisch gestärkt.
Im Juni sagten Sie, dass es mehr internationalen Druck auf die Generäle brauche, um die Gefechte zu beenden. Hat sich da etwas getan?
Es gibt zwar Sanktionen, etwa von den USA, aber ohne wirkliche Strategie. Und die EU hat noch gar keine Sanktionen verhängt. Dabei müssten die finanziellen Mittel beider Seiten so stark eingeschränkt werden, dass sie keine Waffen für diesen Krieg mehr kaufen können. Zudem bräuchte es Druck auf die Staaten, die die Kriegsparteien unterstützen: etwa auf die Vereinigten Arabischen Emirate, die den RSF Waffen liefern.
Der Sudan ist bekannt für seine engagierte Zivilgesellschaft, deren friedlicher Protest 2019 zum Sturz des Diktators Baschir führte. Was ist aus diesen Menschen geworden?
Manche sind ausser Landes geflohen und organisieren sich dort. Aber viele sind noch da. Sie engagieren sich weiter, versorgen ihre Mitmenschen mit Nahrungsmitteln, helfen, sichere Fluchtwege aus den Konfliktgebieten zu finden, und verschaffen den Geflohenen Zugang zu Unterkünften. Leider werden sie viel zu selten in internationale Friedensbemühungen einbezogen.
Haben Sie noch Hoffnung, dass Sie in absehbarer Zeit in Ihre Heimat zurückkehren können?
In näherer Zukunft wird das wohl nicht möglich sein. Sich das bewusst zu machen, ist furchtbar. Der erste sudanesische Bürgerkrieg dauerte 17 Jahre, der zweite 22 Jahre. Gut möglich, dass auch dieser Krieg zwei Jahrzehnte dauern wird. Aber zu sehen, dass jene, die Baschir einst zu Fall gebracht haben, trotz allem nicht aufgeben, macht mir Hoffnung: darauf, dass wir unser Land, wenn die Zeit gekommen ist, wieder aufbauen können, und es hoffentlich zu einem besseren machen werden.
Kholood Khair (38) ist politische Analystin und Gründerin des sudanesischen Thinktanks Confluence Advisory.