Auf allen Kanälen: Eine «Mängelliste» und ihre Folgen

Nr. 50 –

Charlotte Gneuss’ Roman über die DDR erhitzte die Gemüter – denn die Autorin kennt das Land nur aus Erzählungen.

historisches Foto aus der DDR: Mutter mit einem Kind

Darf sie das? Diese Frage trieb das Feuilleton diesen Herbst um. Sie, das ist Charlotte Gneuss, deren Roman «Gittersee» Ende August erschien. «Gittersee» spielt 1976 im gleichnamigen Dresdner Stadtteil, Gneuss selbst kam erst 1992 in Ludwigsburg bei Stuttgart zur Welt. Sie kennt das Leben in der DDR nur aus Erzählungen. Basierend auf solchen, auch von Eltern und Verwandten, und intensiven Recherchen entstand ihr Roman.

«Die Akte Gneuss»

«Gittersee» ist aus der Sicht der sechzehnjährigen Karin Köhler erzählt, deren Freund «Republikflucht» begeht und die von einem Stasimitarbeiter subtil manipuliert wird, bis sie zur Verräterin wird. Die Presse war voll des Lobes. Und tatsächlich ist «Gittersee» ein clever konstruierter und packend geschriebener Coming-of-Age-Roman mit grossartig gezeichneten Protagonist:innen. Doch dann kamen plötzlich Zweifel auf, ob Gneuss als Nachgeborene tatsächlich berechtigt sei, dieses Buch zu schreiben. Weil sich kleine «Mängel» darin fanden.

Der 1962 in Dresden geborene Autor Ingo Schulze hatte vor Erscheinen des Buches für den S.-Fischer-Verlag, in dem er wie auch Gneuss publiziert, eine «Mängelliste» erstellt. Laut Schulze geschah das auf Wunsch von Gneuss’ Lektorin, die Autorin widerspricht. 24 Punkte listete Schulze auf, die falsch seien. So habe man in den Siebzigern in der DDR nicht «lecker» gesagt und auch nicht «Plastiktüte», wie das im Roman steht, sondern «Plastetüte». Zehn Punkte arbeitete die Autorin im Buch noch um, die anderen liess sie stehen. Die Liste gelangte an die Öffentlichkeit, auch an die Jury des Deutschen Buchpreises, die das Buch auf die Longlist gesetzt hatte – auf der Shortlist erschien es dann nicht mehr.

«Die Akte Gneuss», titelte die FAZ, was angesichts des «Vergehens» der Autorin doch ziemlich dramatisiert war. Gneuss nannte es in einem Interview «fast schon perfide, wenn ausgerechnet ein Roman, der sich mit der Tätigkeit der Staatssicherheit beschäftigt, durch eine weitergereichte Liste mit angeblichen Fehlern beschädigt werden soll».

In der darauffolgenden Debatte ging es nicht mehr um die literarische Qualität des Buches, sondern um die Deutungshoheit über die DDR, um Erinnerungskultur, Authentizität und Literatur – und letztlich um den im Raum stehenden Vorwurf von kultureller Aneignung. Der «Freitag» nannte die Diskussion eine «irre identitätspolitische Debatte»: «Nach Jahrzehnten der naiven Ostalgie sind wir im Osten nun bei einer eigentümlichen Identitätspolitik angelangt, laut der sich der Wessi aufgrund mangelnden Sachwissens in Debatten über unser Sein nicht mehr einzumischen hat.» Und im Deutschlandfunk hiess es: «Der Gedanke, dass ein Roman einzig am Selbsterlebten, also an identitären Linien entlang geschrieben werden darf, hat etwas Gruseliges.» Gneuss sei die Vertreterin einer Generation von Autor:innen, die die DDR nicht mehr aus eigener Anschauung kennen würden und darum eine weitaus grössere Distanz zu ihrem Material hätten: «Der fiktionale Raum im Hinblick auf die erzählte DDR weitet sich derzeit, und ‹Gittersee› ist ein besonders gelungenes Beispiel dafür.»

Baden oder nicht baden

Er würde immer dafür eintreten, dass jede und jeder jederzeit und überall über alles schreiben dürfe, betonte Schulze denn auch in der «Süddeutschen Zeitung». Deshalb gebe es ja Literatur. «Aber man riskiert dafür eben auch, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen.» Das mag stimmen. Doch auch Erinnerungen an eine Welt, die man kannte, können unterschiedlich sein: So monierte Schulze, niemand habe in der Elbe, «in dieser Dreckbrühe», gebadet, wie das in Gneuss’ Buch gemacht wird. Gneuss erwiderte, ihre aus der DDR stammenden Eltern hätten das gemacht.

Dabei geht etwas fast unter: Eine der Stärken von «Gittersee» ist, dass der Roman trotz klarer Verankerung in der DDR eine grössere Geschichte über das Leben in einer Diktatur erzählt. Gneuss vermag die Mechanismen und Methoden innerhalb autoritärer Systeme grossartig aufzuzeigen – egal ob man da nun «Plastiktüte» oder «Plastetüte» sagt.

Charlotte Gneuss liest am Sonntag, 14. Januar, um 11 Uhr im Pestalozzischulhaus in Aarau. www.literarischeaarau.ch