Kinderbuchtrend: Mama, werde ich da auch mal porträtiert?

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Mit weiblichen Vorbildern zum Marketingimperium: Die «Rebel Girls»-Bücher wollen zeigen, dass bei genug Girlpower jedem Mädchen alles offensteht. Dass die Welt nicht für alle so funktioniert, geht dabei vergessen.

«An alle rebellischen Mädchen dieser Welt», steht auf der ersten Seite in weissen Lettern auf rotem Grund: «Träumt grösser, zielt höher, kämpft entschlossener. Und im Zweifelsfall merkt euch: Ihr habt Recht.» Das Buch «Good Night Stories for Rebel Girls», 2017 erstmals auf Deutsch erschienen, steht derzeit in der 25. Auflage. An die fünfzig weitere Buchprodukte nach demselben Schema folgten, allen gemeinsam ist der Fokus auf aussergewöhnliche Frauen.

«Im Herzen», schreibt Initiantin Elena Favilli, «sind Rebel Girls Menschen, die die Welt verbessern wollen für sich selbst und die Menschen um sie herum, ganz egal, wie gross die Risiken sind.» Die italienische Autorin und Unternehmerin hat das Projekt 2010 zusammen mit Francesca Cavallo mithilfe eines Crowdfundings gegründet, das innert kürzester Zeit eine Million Dollar einbrachte. Als Aufhänger diente ihnen ein Video, in dem eine Frau mit ihrer Tochter ein Büchergestell mit den beliebtesten Kinderbuchklassikern ausräumt: zuerst alle, in denen gar keine weiblichen Charaktere vorkommen, danach jene, in denen diese nicht zu Wort kommen, und zuletzt alle Prinzessinnengeschichten, in denen Frauen zwar sprechen, aber eigentlich nur auf ihren Prinzen warten, ohne eigene Ambitionen, Ideen, Meinungen. Am Schluss ist das Büchergestell praktisch leer. Favilli und Cavallo versprachen, allen Mädchen dieser Welt mit ihren Storys zu zeigen, dass für sie alles möglich ist.

Panorama der Beliebigkeit

Jedes Porträt beginnt wie ein Märchen, «Es war einmal», und erzählt auf der linken Seite in einfachen Worten aus dem Leben von Pharaonin Hatschepsut, Sängerin Nina Simone oder Tennisspielerin Steffi Graf. Abgerundet wird die Erzählung mit Berufsbezeichnung, Geburtsdaten und einem schmissigen Zitat. Auf der rechten Seite ist die Heldin von immer anderen Illustratorinnen liebevoll porträtiert. Bei der Autorin J. K. Rowling werden deren Harry-Potter-Bücher als «das unglaublichste Phänomen in der Geschichte des Verlagswesens» gefeiert. Rowlings Vornamen seien deshalb abgekürzt worden, «da man befürchtete, Jungen würden das Buch nicht lesen, wenn sie wüssten, dass es von einer Frau geschrieben wurde».

Ein Panorama weiblichen Lebens eröffnet sich vor den Kinderaugen: «Margaret war ausgesprochen praktisch veranlagt und arbeitete stets hart», heisst es beispielsweise über die frühere englische Premierministerin Margaret Thatcher. «Als sie den Krieg gegen Argentinien um die Falklandinseln gewann, bewunderten viele sie für ihre Stärke und Entschlusskraft.» Ganz egal, wer, welche Epoche, welches Erbe hinterlassen wurde – Hauptsache, Frau. Wobei je nach Ausgabe Frauen mit weiteren Gemeinsamkeiten porträtiert werden, wie Women of Color, Forscherinnen oder auch Migrantinnen. Doch bei Letzteren beispielsweise gilt jegliche Verschiebung des Lebensmittelpunkts als Migrationsgeschichte – egal ob reiche Expat mit bester Ausbildung oder geflüchtete Frau.

Die Strukturen, die diese Frauen gemeinsam hinterfragt oder bekämpft haben, bleiben dadurch unsichtbar. Was den Büchern voller Beispiele kraftvoller Weiblichkeit letztlich fehlt, sind Kontext und Differenzierung. Was unterscheidet Coco Chanel von Greta Thunberg? Warum ist es für geflüchtete Menschen ungleich schwieriger, die Welt zu verbessern, als für Expats? Und warum stehen all die Menschen, die unter Thatchers Politik gelitten haben, wohl kaum je in diesen Büchern?

Schön, aber falsch

Das Rebel-Girls-Imperium verkauft längst nicht mehr nur Bücher, sondern auch ein ganzes Arsenal an Merchandising: Papeterie, Stofftiere, aber auch Ski und Snowboards. Über den Gift Finder auf der schön gestalteten Website lässt sich mit wenigen Klicks auch das perfekte Geschenk für Rebel Girls finden. Damit gelangt der selbsternannte «Global Empowerment Brand» inzwischen in 110 Länder und hat laut eigenen Angaben zehn Millionen Bücher verkauft. 2022 soll die Firma 16,6 Millionen Dollar Umsatz erzielt haben.

Laut den Storys der Rebel Girls können wir alle jederzeit alles werden. Die permanent mitgetragene Message, mit jedem Porträt, jedem Tagebuch, jedem Glitzerstift: Du, mein liebes Mädchen, bist ein Rebel Girl. Du kannst das auch. Die Frage drängt sich auf, mit Hoffnung und Leistungsdruck direkt aus dem Kinderzimmer gestellt: «Mama, werde ich da auch mal porträtiert?»

Die Idee, dass Mädchen alles werden können, solange sie das nur wollen, ist schön, aber falsch. Frauen haben nicht die gleichen Voraussetzungen, nur weil sie Frauen sind, und viele müssen bereits hart dafür kämpfen, ein Leben in Würde führen zu können. Um dies für Kinder verständlich zu machen, bräuchte es den Bezug zu grösseren Strukturen, die ihnen dadurch auch ihre eigenen Privilegien und Einschränkungen begreiflich machen könnten. Auch die porträtierten Frauen waren oder sind nämlich kaum je Einzelkämpferinnen, sondern Teil sozialer Bewegungen, die sich durchaus auch widersprechen. Andere Frauen, die in den Büchern nicht vorkommen, führen ihre Kämpfe im Kleinen oder sind des Kämpfens müde. Vielleicht wollen sie gar keine Heldinnen, sondern einfach nur Menschen sein. Und auch das wäre in Ordnung.