Antifaschistische Massenproteste: Das grosse deutsche Unterhaken

Nr. 4 –

Die Lethargie scheint endlich abgeschüttelt: In Deutschland demonstrierten rund eine Million Menschen gegen rechts. Wohin führt der Protest?

Kundgebung am 19. Januar in Hamburg
«Wir sind die Brandmauer»: Kundgebung am 19. Januar in Hamburg. Foto: Jörg Modrow, Laif

In der Frankfurter Innenstadt ist am Samstagmittag kein Durchkommen. Zehntausende drängen sich an diesem 20. Januar in den Strassen rund um das Rathaus, wo die Kundgebung gegen rechts stattfindet, der Platz ist bereits wegen Überfüllung geschlossen. Die «Omas gegen rechts» sind da, junge Menschen mit bunten Mützen, Ältere mit bestickten Tüchern oder Fedorahut, Fahnen der Gewerkschaft Verdi sind zu sehen, Flaggen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Antifawimpel. Viele haben Schilder dabei: «EkelhAfD» steht darauf oder «Remigriert euch ins Knie» – und die Forderung nach einem Verbot der extrem rechten AfD, der Alternative für Deutschland.

Frankfurt ist keine Ausnahme: Landauf, landab finden solche Demonstrationen statt. 100 000 Menschen in Hamburg, bis zu 200 000 in München, 50 000 in Leipzig, 200 000 oder mehr in Berlin. Vielleicht noch wichtiger: Auch in Klein- und Mittelstädten in den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo dieses Jahr gewählt wird und die AfD in Umfragen mit mindestens dreissig Prozent auf Platz eins steht, gerät etwas in Bewegung: Tausende in Cottbus, Chemnitz, Erfurt, sogar in AfD-Hochburgen wie Pirna oder Görlitz demonstrieren Menschen gegen den Aufstieg der Rechten.

Kritik an den etablierten Parteien

Organisiert werden die Proteste von spontan gegründeten Bündnissen aus sozialen Bewegungen und Zivilgesellschaft, mancherorts auch von Unternehmen, die sich Sorgen um das Image des Landes machen. In Berlin initiierte die Klimabewegung Fridays for Future eine der ersten Demos. Auslöser dieser Welle an Antinaziprotesten war ein Bericht der investigativen Medienplattform «Correctiv» über ein Treffen in Potsdam: Ende November hatten sich dort Unternehmer und Personen aus der Naziszene, von der AfD über den österreichischen Identitären Martin Sellner bis zum rechten Rand der CDU, versammelt und Planspiele zur Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland diskutiert.

«Wir sind die Brandmauer» lautet einer der Slogans: Er spielt auf ein Schlagwort an, mit dem die Parteien von CDU bis zu Die Linke ihre Abgrenzung zur AfD betonen und eine Zusammenarbeit mit der Partei ausschliessen. Dass diese «Brandmauer» immer sichtbarer Risse bekommt, etwa wenn CDU, FDP und AfD in Kommunal- und Landesparlamenten gemeinsam für Kürzungen von Leistungen für Asylsuchende oder für Steuersenkungen stimmen, macht offenbar mehr Menschen Angst, als man zuletzt vermuten konnte. In der Betonung, dass «wir», also die ganz normalen Bürger:innen, die Brandmauer seien, steckt auch eine Kritik an den etablierten Parteien, die nicht genug tun, um die AfD zu bekämpfen, weshalb es jetzt auf «uns alle» ankomme, ein Zeichen zu setzen und die Demokratie vor ihren rechten Feind:innen zu schützen.

Hier beginnen auch die Ambivalenzen. Denn obgleich die Sorge vieler Bundesbürger:innen vor einer rechten Machtübernahme real ist, ist damit nicht unbedingt eine Ablehnung rechter Politik verbunden. In der Migrationspolitik beschliesst die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen seit Monaten Massnahmen zulasten von Geflüchteten. Erst am Freitag verabschiedete der Bundestag das «Rückführungsverbesserungsgesetz», das die Rechte Schutzsuchender abermals enorm beschneidet und Abschiebungen erleichtern soll.

Die Delle im rechten Aufschwung

Dieser Widerspruch spielte auf den meisten Kundgebungen bislang keine grosse Rolle. Zumindest in den westdeutschen Städten dürften viele Demonstrant:innen bei der letzten Wahl ihr Kreuz bei SPD oder Grünen gemacht haben. Kritik an der Regierung gibt es natürlich, vielerorts wurde sie auf Plakaten, auch in einigen Reden zur Sprache gebracht – im Vordergrund steht jedoch der Zusammenhalt. Für die Bundesregierung sind die Proteste daher ein willkommener Anlass, um das grosse Unterhaken gegen die AfD zu beschwören, ohne über die eigene politische Verantwortung für deren Aufstieg – etwa durch die Übernahme von AfD-Forderungen – sprechen zu müssen.

Ähnliche Konstellationen gab es schon häufiger. 1992, auf dem Höhepunkt der rassistischen Gewaltwelle, demonstrierten Millionen gegen die Nazimorde, ein halbes Jahr später schränkte die Regierung das Grundrecht auf Asyl drastisch ein. Im Jahr 2000 kam es nach dem Anschlag auf eine Synagoge zum von der damaligen SPD-Grünen-Regierung ausgerufenen «Aufstand der Anständigen» – etwa zeitgleich begann der NSU damit, Migrant:innen zu ermorden, und blieb damit jahrelang unentdeckt. Und als 2018 ein Mob Geflüchtete durch Chemnitz hetzte, kamen danach Zehntausende unter dem Hashtag #wirsindmehr in die Stadt. Den rechten Aufschwung bremsten diese Proteste nur kurzfristig, mittelfristig blieben sie eine kleine Delle in der Aufwärtskurve der faschistischen Bewegung und des Rechtsrucks nahezu aller anderen Parteien.

«Wir sind mehr», heisst es nun erneut. Die sonst um rassistische Hetze nie verlegene Berliner Boulevardzeitung «B.Z.» titelte diesen Ausruf, zusammen mit dem Foto einer der Massendemos. Die AfD-Anhänger:innen wird das alles wohl nicht erschüttern. Eher werden sie sich angesichts der Proteste mit dem Gütesiegel der Regierung in ihrer Dissidentenrolle bestärkt sehen und der faschistischen Rechten die befürchteten guten Wahlergebnisse im Superwahljahr 2024 bescheren. Ob die Proteste bis dahin mehr bewirken können als einen kurzen Moment demokratischer Selbstvergewisserung, muss sich erst noch zeigen.