Fussballfans: Übungsfeld für Repressionen

Nr. 4 –

Bürgerliche Politiker:innen und Polizeibehörden gehen mit Kollektivstrafen gegen Fussballfans vor. Damit heizen sie die Situation rund um Schweizer Stadien erst richtig an.

leerer Gästesektor des Berner Wankdorfstadions vor Anpfiff des Spiels Young Boys gegen Grasshoppers
Gespenstische Stille: Gästesektor des Berner Wankdorfstadions vor Anpfiff des Spiels Young Boys gegen Grasshoppers.

Fast schon gespenstisch still war es im trotz allem gut gefüllten Berner Wankdorfstadion. Sonst wird dort während Heimspielen der Berner Young Boys (YB) laut gesungen und gerufen. Doch am letzten Samstag waren fast nur Kinderstimmen zu hören. Der Grund dafür zeigte sich beim Blick auf die YB-Fankurve: Diese musste auf behördliche Verfügung hin im Spiel gegen den Grasshopper Club (GC) aus Zürich leer bleiben.

Die Sperrung ist Teil der neusten Runde repressiver Verschärfungen gegen Fussballfans. Die Fankurven aus Basel, Zürich, St. Gallen, Sion oder Winterthur hatten deshalb angekündigt, sich mit der YB-Kurve zu solidarisieren und am Samstag für eine Protestkundgebung nach Bern zu reisen. Die Berner Polizeibehörden verboten diese und waren mit einem Grossaufgebot präsent. Doch die Fans kamen nicht. In einer Mitteilung kritisierten sie stattdessen «die Eskalationsspirale der Behörden, die eine Sackgasse» sei.

Derweil erarbeiten die Kantone unter dem Titel «Progresso» bereits neue Massnahmen, um «Fanausschreitungen zu minimieren». Vorgesehen ist dabei auch ein umstrittenes Kaskadenmodell mit automatischen Sperren für ganze Kurven bis zu verweigerten Spielbewilligungen. Viele Fans sehen in der verhängten Fankurvensperre eine Vorwegnahme dieses neuen Modells. Am Samstag sassen im Wankdorfstadion in den geöffneten Sektoren überall verstreut Menschen mit «Wo ist Walter?»-Masken. Eine ironische Geste, die klarmachen sollte, dass einige aus der Kurve doch da waren. In der zweiten Halbzeit stimmten sie in die Stille hinein ihre Gesänge an.

Fokussierung aufs Negative

Das Handeln der Behörden kommt zu einem Zeitpunkt, da die Zahl der registrierten Zwischenfälle in der Super League, der höchsten Schweizer Fussballliga, so tief ist wie seit Jahren nicht mehr. Weshalb dann die Verschärfungen? Das hänge mit politischen Dynamiken zusammen, sagt Alain Brechbühl, Leiter der Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen der Universität Bern. Am Ursprung stünden meist einzelne Zwischenfälle, die viel mediale Aufmerksamkeit erhielten – und auf die jeweils eine Reaktion von Politik und Behörden folge.

Dass es im Rahmen von Fussballspielen auch zu Gewalt kommt, bestreitet auch YB-Fanarbeiter Adrian Werren nicht: «Doch dass der öffentliche Diskurs und die Behörden im Kontext von Fussballfans ausschliesslich auf das Negative fokussieren, ist problematisch.» Der Sozialpädagoge sieht in der Szene motivierte junge Menschen, die in ihrer Freizeit viel kreative Energie investierten und sich dabei sozial weiterentwickelten. «Ja, es gibt patriarchale und hierarchische Muster und Strukturen – doch das sind gesamtgesellschaftliche Phänomene, die der Fussball nicht alleine lösen kann.»

Gut für die Karriere

Der negative öffentliche Diskurs lässt die Kurven zu einem dankbaren Ziel für selbst ernannte Law-and-Order-Politiker:innen werden. Gegenüber Fans in Fussballkurven mit Härte zu agieren, kann karrierefördernd sein, wie das Beispiel der ehemaligen St. Galler Regierungsrätin und heutigen FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter zeigt. Der für die Kurvensperrung vom vergangenen Samstag zuständige Stadtberner Polizeivorsteher Reto Nause (Mitte) wurde kürzlich in den Nationalrat gewählt. Und in Basel-Stadt ist mit Stephanie Eymann (LDP) eine Politikerin zuständig, die immer wieder mit repressiver Politik auffällt.

Dass da die Relationen schon mal verloren gehen können, zeigt sich auf der Website der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektor:innen (KKJPD), wo «Hooliganismus» zwischen «Organisierter Kriminalität» und «Menschenhandel und Menschenschmuggel» aufgeführt ist. «Fussballfans sind für die Behörden seit Jahrzehnten ein Experimentierfeld für Repressionen», sagt Rechtsanwältin Manuela Schiller, die in den letzten zwanzig Jahre unzählige Fussballfans vertreten hat. «Bei ihnen werden Dinge ausprobiert, die später auch auf andere Gruppen angewandt werden.»

Die Kurvensperrung vom letzten Wochenende ging auf ein Auswärtsspiel von YB bei GC Ende September in Zürich zurück. Geplant war damals ein Fanmarsch vom Bahnhof Zürich Altstetten zum Letzigrundstadion. Doch wenige Minuten vor Einfahrt des YB-Sonderzugs teilten die Behörden mit, dass der Marsch nicht erlaubt werde und die Berner Fans mit Bussen zum Stadion gebracht würden. Doch nicht alle hatten diese Programmänderung mitbekommen. Sie marschierten los – worauf die Polizei ohne Vorwarnung mit Gummischrot auf die Gruppe schoss, darunter Familien mit Kindern sowie auch der Leiter der Fanarbeit von YB, der das Erlebte später in einem Interview schilderte. In Altstetten kochte die Stimmung hoch. In der Folge beschädigten einige wenige YB-Anhänger einen Bus und bedrohten den Buschauffeur. Die strafrechtliche Verfolgung war nicht erfolgreich. Stattdessen wurde die Sperrung der Kurve beim Rückspiel verhängt. Sicherheitsdirektor Nause sprach von einer ­«Kollektivstrafe».

Kontraproduktiv und widerrechtlich

Die Behörden ignorierten Forschungsergebnisse, die aufzeigten, dass Vergeltungsaktionen und Kollektivstrafen für weitere Eskalation sorgen können, sagt Alain Brechbühl, der auch Studien für die KKJPD erstellt: «Durch das Vorgehen der Behörden droht der Konflikt zwischen ihnen und den Fans weiter zu eskalieren.» Gleichzeitig würden Gruppenprozesse angestossen, in denen sich die gesamte Fankurve schlimmstenfalls radikalisiere.

Die Sperrung, von der mehrere Tausend Menschen betroffen waren, ist aus einem weiteren Grund fragwürdig: «Es ist fraglich, ob das Vorgehen der Behörden überhaupt eine rechtliche Grundlage hat», sagt Brechbühl. Die in Bern verfügte Kurvensperrung stützt sich auf eine unter dem damaligen Justizminister Christoph Blocher 2007 geschaffene verwaltungsrechtliche Sondergesetzgebung. Diese wurde inzwischen weiter verschärft und ist heute als «Hooligan-Konkordat» der Kantone organisiert.

Dessen Bestimmungen ermöglichen es, ohne richterlichen Entscheid weitgehende Massnahmen zu verfügen: mehrjährige Rayonverbote, vorsorglichen Polizeigewahrsam oder Meldeauflagen – zudem ist eine Bewilligungspflicht für Fussball- und Eishockeyspiele der obersten Ligen vorgesehen.

Das Bundesgericht urteilte auf eine Beschwerde von Fans, dass diese Massnahmen zwar statthaft seien, aber keinen strafenden Charakter aufweisen dürften. Sie dürften also einzig verfügt werden, um weitere Straftaten oder Ausschreitungen zu verhindern. Dass diese Voraussetzung über drei Monate nach dem Vorfall in Zürich nicht gegeben war, davon ist auch der YB-Fan Nikolas Egloff überzeugt. Schliesslich hat sogar Berns Polizeidirektor den strafenden Charakter der Massnahme erwähnt. Als Saisonkartenbesitzer ist Egloff selber von der Sperrung betroffen. Eine Beschwerde, die er eingereicht hatte, um die Sperrung zu verhindern, blieb bisher erfolglos. Sie ist aber noch hängig.

Reto Nause schreibt in seiner Stellungnahme gegenüber der WOZ, es sei «vielleicht etwas polemisch» gewesen, gegenüber der «Berner Zeitung» von einer ­«Kollektivstrafe» gesprochen zu haben. Die Sperrung der Fankurve sei «eine gezielte Massnahme gegen die Fans nach dem Angriff auf den Buschauffeur in Zürich gewesen».

Demnächst auch in Zürich

Sperrungen sind heikle Massnahmen. Gleichwohl geschieht die Entscheidungsfindung höchst intransparent. In der Praxis werden die Entscheide über Bewilligungen oder Stadion- oder Fankurvensperrungen derzeit von der «Arbeitsgruppe Bewilligungsbehörden» gefällt. Bemerkenswert ist, dass diese ganz ohne rechtliche Basis arbeitet. Das bestätigt auch Florian Düblin, Generalsekretär der KKJPD. Am Erscheinungstag dieser WOZ berät die «informelle Arbeitsgruppe» über die umstrittenen Verschärfungen unter dem Titel «Progresso», die laut Düblin bereits in wenigen Wochen endgültig verabschiedet* werden sollen.

Am vergangenen Dienstag folgte bereits die nächste Ankündigung dieser Arbeitsgruppe: Als Reaktion auf «Angriffe von rund hundert Zürcher Fans gegen die Stadtpolizei Zürich» beim Spiel des FC Zürich gegen den FC Basel am letzten Samstag, so die KKJPD in einer Medienmitteilung, soll die «Südkurve» beim nächsten Heimspiel des FCZ gegen Lausanne-Sport am 31. Januar gesperrt werden.

* Korrigenda vom 26. Januar 2024: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion dieses Textes stand fälschlicherweise, dass die Verschärfungen unter dem Titel «Progresso» laut Düblin bereits in wenigen Wochen in Kraft treten sollen. 

Nachtrag vom 1. Februar 2024 : Rekurs gegen Fankurvensperrungen

Erneut haben Behörden in der Schweiz die Sperrung einer Fankurve verfügt: diesmal für das Spiel des FC Zürich gegen Lausanne-Sport, das am Abend vor dem Erscheinen dieser WOZ im Zürcher Letzigrund ausgetragen wurde. Als Grund nannten sie die «erheblichen Ausschreitungen», zu denen es nach dem Spiel des FCZ gegen den FC Basel vor rund zwei Wochen gekommen sei.

Fünf Zürcher Fussballfans haben in einem Rekurs eine Neubeurteilung durch die Zürcher Stadtregierung verlangt – mit aufschiebender Wirkung. Bis Redaktionsschluss lag noch kein Entscheid durch die Stadtregierung vor. Beobachter:innen gingen davon aus, dass die aufschiebende Wirkung nicht gewährt würde.

Die Fans stellen in ihrem Rekurs die Rechtmässigkeit der Massnahme infrage. Zum einen argumentieren sie, wie zuletzt auch 48 Fans der Berner Young Boys, dass solche Sperrungen gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts keinen strafenden Charakter haben, sondern nur als präventive Massnahme angeordnet werden dürfen. Dies sei im aktuellen Fall nicht gegeben. In der «SonntagsZeitung» hat FCZ-Präsident Ancillo Canepa angekündigt, ebenfalls Rekurs einzulegen, um die Rechtmässigkeit solcher Kollektivstrafen klären zu lassen.

Die rekurrierenden FCZ-Fans stellen zudem infrage, ob die Verfügung des Stadtzürcher Sicherheitsdepartements überhaupt statthaft ist. Dies, weil der dieser zugrunde liegende Entscheid nicht vom Departement, sondern von der sogenannten Arbeitsgruppe Bewilligungsbehörden gefällt und kommuniziert worden ist. Bei dieser handelt es sich um eine ohne rechtliche Basis tagende informelle Gruppe von Behörden aus der ganzen Schweiz. Sie sei gesetzlich nicht für den Entscheid zuständig, weshalb die daraus resultierende Verfügung als «nichtig» zu taxieren sei, so die FCZ-Fans.