Widerstand in Russland: Mit Schneebällen gegen die Blendgranaten

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In der Republik Baschkortostan solidarisieren sich Tausende mit einem angeklagten Unabhängigkeitsaktivisten. Der grösste Protest seit zwei Jahren richtet sich zunehmend auch gegen den Krieg.

Vier Jahre Haft kommen in Russland in gewisser Weise fast schon einem milden Urteil gleich. Zumal wenn der Verurteilte den Behörden als langjähriger, renitenter politischer Unruhestifter gilt – wie im Fall des 37-jährigen Fail Alsynow, angeklagt wegen «Volksverhetzung».

Der Entscheid ging den Tausenden Unterstützer:innen, die sich Mitte Januar trotz eisiger Temperaturen vor dem Gericht in der baschkirischen Kleinstadt Bajmak zur Urteilsverkündung versammelten, dennoch zu weit. Die Anklage hatte vier Jahre Freiheitsentzug in einer Strafkolonie mit erleichterten Haftbedingungen gefordert, also ohne Kommunikationsbeschränkungen und mit der Möglichkeit für Freigang. Demnach hatten die Versammelten eine gemässigtere Strafe erwartet, als die Richterin schliesslich verhängte.

«Die Kraft in der Einheit»

Vor dem Gerichtsgebäude forderte die Menge lautstark «Freiheit!», rief «Die Kraft liegt in der Einheit!» und blockierte den Transportwagen, mit dem Alsynow weggebracht werden sollte. Anwesende Sondereinheiten der Polizei griffen ein, in deren Richtung flogen Schneebälle, gegen die Protestierenden kamen Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcke zum Einsatz. Erst nach mehreren Stunden endeten die heftigen Auseinandersetzungen.

Nach Angaben lokaler Telegram-Kanäle gab es mehrere Dutzend Verletzte, fünf Personen wurden in Schnellverfahren zu mehrtägigen Haftstrafen verurteilt, andere Festgenommene noch vor Ort wieder freigelassen. Angesichts der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft kurzerhand Ermittlungen wegen «Organisierung und Teilnahme an Massenunruhen» und «Widerstand gegen die Staatsgewalt» eingeleitet hat, folgt sicherlich noch ein Nachspiel. Auf die vorgeworfenen Tatbestände stehen Haftstrafen bis zu fünfzehn Jahren. Bislang laufen Ermittlungen gegen eine Person, ausserdem wird anhand von Foto- und Videoaufnahmen auf Hochtouren nach Beteiligten gefahndet. Das oppositionelle Nachrichtenportal «RusNews» vermeldete zudem am Sonntag, über dreissig Bewohner der umliegenden Dörfer seien von der Polizei regelrecht verschleppt worden. Kontakt zu ihnen bestehe nicht.

Dass die ganze Angelegenheit von höchster Brisanz ist, liegt auf der Hand: Es handelt sich schliesslich um die zahlenmässig grössten Proteste seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Radij Chabirow, der Republikchef von Baschkortostan, warf den Protestteilnehmer:innen zudem vor, sich mit einer Gruppe von Personen zu solidarisieren, die zum Partisanenkrieg und zur Abspaltung der Republik von Russland aufrufe – allen voran mit den beiden Gründern der verbotenen nationalistischen Bewegung Baschkort, Ruslan Gabbasow und Fail Alsynow.

Tatsächlich aber gaben sich baschkirische Nationalist:innen nach einer radikalen Phase in den neunziger Jahren später wieder eher gemässigt. Baschkort entstand vor rund zehn Jahren und richtete sich vorrangig an in ländlichen Regionen lebende junge Menschen – mit zunehmendem Rückhalt. Das Programm der Bewegung verfolgt – neben der Forderung, Nationalitätsquoten in der baschkirischen Regierung einzuführen und die Nationalsprache gezielt zu fördern – durchaus auch mehr Autonomie für die Republik. Und nicht zuletzt: die Vergesellschaftung der Bergbauindustrie in der Region. Denn Baschkortostan ist reich an Bodenschätzen wie Kupfer, Zink und Gold. Doch vom Gewinn aus dem Geschäft profitiert nicht die Lokalbevölkerung, sondern in anderen Regionen registrierte Unternehmen.

Massenproteste gegen Raubbau

Gegen den Raubbau am Berg Kuschtau, der der baschkirischen Bevölkerung als kultureller Bezugspunkt und Naturdenkmal gilt, entzündeten sich 2020 Massenproteste. Ein Vertrag über Kalksteingewinnung war bereits mit einer Firma abgeschlossen, erste Bäume wurden gefällt, dann setzten sich die Gegner:innen der kommerziellen Nutzung durch – die Pläne wurden auf Eis gelegt.

Fail Alsynow beteiligte sich von Anfang an am Protest. Baschkort wurde in der Folge für extremistisch erklärt und verboten. Sein langjähriger Mitstreiter Gabbasow verliess daraufhin Russland und beantragte in Litauen Asyl. Alsynow – so lautet die Aussprache seines Nachnamens auf Baschkirisch, im Pass steht die russische Variante Altschinow – blieb zurück. Mit der Zeit entwickelte sich eine Art Arbeitsteilung: Während Gabbasow offen dazu aufrief, sich nicht am Krieg gegen die Ukraine zu beteiligen, widmete sich Alsynow lokalen Themen, immer bemüht, strafrelevante Aussagen zu vermeiden. Bis zum Sommer kam er damit durch.

Im von Republikchef Chabirow angeleierten Strafprozess gegen Alsynow hiess es nun, dieser habe bei einer Kundgebung gegen Goldabbau in seiner auf Baschkirisch vorgetragenen Rede gegen Migrant:innen aus Zentralasien gewettert. Der Angeklagte widersprach und verwies auf einen Übersetzungsfehler.

Chabirow geht es darum, in seinem Einflussgebiet für Ruhe zu sorgen – doch der repressive Umgang mit dem politisch äusserst diversen Lager von Alsynows Unterstützer:innen erreicht stellenweise genau das Gegenteil. Nicht nur häuften sich nun Aufrufe gegen eine Kriegsbeteiligung, im Telegram-Kanal «Kushtaybairam», der zur Koordinierung des Protests von letzter Woche diente, finden sich auch Videobeiträge mit sehr deutlichen Worten: «Unser heutiger Feind ist Moskau.»