Israel: «Was habt ihr getan, als sie in Gaza vor Hunger starben?»

Nr. 11 –

Viele Israelis lehnen Hilfslieferungen in den Gazastreifen trotz der katastrophalen humanitären Lage vor Ort ab. Aber es gibt auch Menschen und Organisationen, die auf eigene Faust zu helfen versuchen.

Rula Daoud will nicht akzeptieren, dass in Tel Aviv die Regale der Supermärkte gefüllt sind, während die Menschen im rund hundert Kilometer entfernten Gazastreifen Hunger leiden. Bereits zum zweiten Mal startet die Aktivistin mit Mitstreiter:innen der jüdisch-palästinensischen Bewegung Standing Together am Mittwochmorgen den Versuch, einen Lastwagen mit Hilfsgütern auf eigene Faust nach Gaza zu bringen. Für die 38-Jährige ist klar: «Israel hat die Verantwortung, humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen.»

Damit widerspricht sie dem, was ein Grossteil der Israelis in diesen Tagen denken. Umfragen zufolge sind 68 Prozent der jüdischen Israelis gegen Hilfslieferungen. Daoud berichtet von täglichen Drohnachrichten. ­«Einer rief mich vorgestern an und gab sich als Polizist aus», sagt sie. «Als ich ihn nach seiner Dienstnummer fragte, begann er, mir zu drohen und mich zu beschimpfen.» Auch die private Adresse ihres Partners sei veröffentlicht worden.

Blockaden der Nationalreligiösen

Eine Woche zuvor: Rund zwanzig Fahrzeuge und ein Lastwagen mit den lilafarbenen Standing-Together-Fahnen haben sich an einer Tankstelle fünf Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt versammelt. Auf der Ladefläche liegen Plastiktüten mit Linsen, Mehl und Konserven. Ein Tropfen auf den heissen Stein angesichts der Not in Gaza. Täglich bräuchte es laut dem Welternährungsprogramm rund 300 Lastwagen, um die 2,3 Millionen Bewohner:innen des weitgehend zerstörten Küstenstreifens mit dem Nötigsten zu versorgen. Aktuell schaffen es täglich bloss rund 100 Lastwagen in das Gebiet.

Auf dem Weg nach Süden passiert der Konvoi das Gelände des Nova-Festivals, auf dem Hamas-Terroristen am 7. Oktober mehr als 350 Menschen ermordeten. In der Nähe wummern Artilleriegeschütze, die Ziele in Gaza beschiessen. Die Autoreifen surren auf dem von Panzerketten malträtierten Asphalt.

Die Aktivist:innen wollen Kerem Schalom an der ägyptischen Grenze erreichen, den einzigen Grenzübergang, den Israel für Hilfslieferungen in den abgeriegelten Küstenstreifen geöffnet hat. Doch wenige Kilometer vorher stoppen Polizei und Armee den Tross an einer Strassenkreuzung nahe dem Kibbuz Nir Jitzchak. Der Übergang sei militärisches Sperrgebiet, heisst es.

Die Aktivist:innen von Standing Together sind nicht die Einzigen, die zum Grenzübergang wollen. Zweimal pro Woche machen sich religiös-nationalistische Gruppen mit einem ganz anderen Anliegen auf den Weg nach Kerem Schalom: Sie blockieren teils für Stunden die Zufahrt unter den Augen von Polizei und Armee. «Geht doch rüber nach Gaza und bleibt dort», ruft eine Autofahrerin dem lila beflaggten Konvoi zu. «Ich bin dafür, dass die Menschen in Gaza erst wieder Hilfe bekommen, wenn die Hamas alle israelischen Geiseln freigelassen hat», fügt sie hinzu.

Drei Minuten – für die Umkehr

Um die Beschränkungen für Hilfslieferungen in den Gazastreifen durch Israel zu umgehen, verlegen sich die USA, Jordanien und andere Länder zunehmend auf komplizierte Umwege: Mehrmals haben Flugzeuge Hilfslieferungen mit Fallschirmen über dem Küstenstreifen abgeworfen. Damit können sie aber nur einen Bruchteil dessen liefern, was nötig wäre. Bei einem missglückten Abwurf wurden am Freitag mindestens fünf Menschen getötet.

Nun soll die Versorgung über See ausgebaut werden. Am Dienstag verliess ein Schiff der spanischen Hilfsorganisation Open Arms mit 200 Tonnen Hilfsgütern den Hafen von Larnaka auf Zypern. Doch bisher ist unklar, wie die Hilfsgüter in Gaza sicher an Land gebracht werden sollen. Die USA haben den Bau eines schwimmenden Docks angekündigt. Es dürfte jedoch mehrere Wochen dauern, bis es in Betrieb gehen kann.

In Gaza wächst indes die Verzweiflung. Mehr als eine halbe Million Menschen sind nach Uno-Angaben vom Hungertod bedroht. Immer wieder werden Hilfskonvois im Inneren des Küstenstreifens vom israelischen Militär behindert oder von hungrigen Menschen gestoppt und leer geräumt, bevor sie die am schlimmsten unterversorgten Gebiete im Norden erreichen.

Vergangenen Donnerstag gab ein Grenzpolizist den Aktivist:innen von Standing Together schliesslich drei Minuten, um umzukehren. Rula Daoud will sich aber vor der erneut geplanten Abfahrt diese Woche nicht entmutigen lassen: «Das wird nicht das letzte Mal sein, das ist nur der Anfang.» Millionen Menschen in Gaza hungern zu lassen, sei nicht zu rechtfertigen.

Für diesen Freitag ruft nun Zazim, ebenfalls eine jüdisch-palästinensische Gruppe, dazu auf, vor dem Hafen der israelischen Stadt Aschdod für mehr Hilfslieferungen zu protestieren. Mit einer auf einem Lastwagen montierten Videoinstallation wollen sie den Stadtbewohner:innen Bilder von der Not in Gaza zeigen. In ihrem Protestaufruf fragen sie: «Was habt ihr getan, als die Menschen in Gaza vor Hunger starben?»

Nun scheint sich doch etwas zu bewegen. Wie die israelische Armee am Dienstag mitteilte, konnten erstmals sechs Lastwagen des Welternährungsprogramms einen Übergang in Nordgaza nahe dem Kibbuz Beeri nutzen. Es ist seit Wochen die erste direkte Hilfslieferung dorthin. Ob es künftig mehr solche Lieferungen geben soll, ist jedoch offen.