Humanitäre Katastrophe in Gaza: Aus der Schweiz nur Worthülsen

Nr. 11 –

Fünf Monate. Fünf Monate, in denen jeden Tag über hundert Menschen in Gaza durch Angriffe der israelischen Armee getötet wurden. Fünf Monate, in denen rund die Hälfte aller Gebäude zerstört oder beschädigt wurde. In denen die humanitäre Lage immer verzweifelter wurde. Nun sind vergangene Woche die ersten Meldungen aufgetaucht, dass mehrere Kinder an Mangelernährung gestorben sind.

Selbst Israels engste Verbündete geben sich besorgt: «Die Menschen im Gazastreifen brauchen eine sofortige humanitäre Pause, die zu einem dauerhaften Waffenstillstand führt – und sie brauchen sie jetzt», sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Dienstag. Am Wochenende ermahnte US-Präsident Joe Biden die israelische Regierung von Benjamin Netanjahu ungewohnt deutlich, dass «der Schutz und die Rettung unschuldiger Menschen» Vorrang haben müsse.

Die israelische Regierung hat in den vergangenen Monaten gezeigt, dass sie ihren Krieg gegen die Hamas ohne Rücksicht auf die Zivilist:innen in Gaza und unter Missachtung des humanitären Völkerrechts führt. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag forderte Israel schon Ende Januar auf, «sofortige und wirksame Massnahmen» zum Schutz von Zivilist:innen in Gaza umzusetzen. Dem sei Israel in keinster Weise nachgekommen, hält Amnesty International fest.

Es braucht also nicht bloss deutlich mehr humanitäre Hilfe, sondern auch einen sofortigen, dauerhaften Waffenstillstand. Nur so kann die Versorgung der hungernden Menschen in Gaza gewährleistet werden, wie verschiedene Uno-Institutionen schon lange betonen. Es ist auch der einzige Weg, wie die über hundert israelischen Geiseln freikommen, die sich seit den Massakern der Hamas vom 7. Oktober in Gaza befinden: Denn das kann nur über politische Verhandlungen gelingen.

Und was macht die Schweiz im Angesicht einer der grössten humanitären Katastrophen der vergangenen Jahre? Als Depositarstaat der Genfer Konventionen, des Herzstücks des humanitären Völkerrechts, trägt das Land eine besondere Verantwortung. Es hat zudem derzeit Einsitz im Uno-Sicherheitsrat, dem wichtigsten Gremium der Vereinten Nationen. Hier vertritt die Schweiz denn auch eine klare Haltung, die das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf Anfrage bestätigt: «Die Schweiz unterstützt einen sofortigen humanitären Waffenstillstand, um die Geiseln zu befreien, die Zivilbevölkerung zu schützen und die humanitäre Hilfe aufzustocken.»

Allerdings scheinen weder der Bundesrat – allen voran FDP-Aussenminister Ignazio Cassis – noch die bürgerliche Parlamentsmehrheit willens, diese Position zu vertreten, geschweige denn umzusetzen. Zwar hat die Schweiz im November neunzig Millionen Franken Nothilfe für die Region bereitgestellt und ans Rote Kreuz, Uno-Institutionen sowie an Schweizer NGOs ausbezahlt. Doch seither ist kein Rappen mehr in die humanitäre Hilfe für Gaza geflossen. Das Parlament hat bereits im Dezember beschlossen, weitere Gelder erst «nach Konsultation der aussenpolitischen Kommissionen» auszuzahlen. Diese seien für das zweite Quartal 2024 vorgesehen, teilt das EDA mit. Dieses politische Vorgehen ist angesichts der sich täglich zuspitzenden humanitären Katastrophe verantwortungslos. Und es entlarvt die Forderungen von Cassis’ Aussendepartement als letztlich bedeutungslose Worthülsen.

Dasselbe gilt auch für die Statements von US-Präsident Biden und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen. Die hohe Zahl ziviler Opfer in Gaza, die gewaltige Zerstörung der Infrastruktur und die kaum noch abwendbare Hungersnot sind keine Kollateralschäden. Sie waren und sind vermeidbar. Sie sind das Resultat politischer Entscheidungen der israelischen Regierung – und ihrer Verbündeten, die nicht viel früher bereit waren, mit Nachdruck auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu pochen. Es ist höchste Zeit, dass sich das ändert.