Rechte Sozialpolitik: «Es braucht zwei, drei, viele Niederlagen»
SP-Kopräsident Cédric Wermuth findet es inakzeptabel, dass der Bundesrat den Haushalt auf Kosten der AHV sanieren will. Vielmehr sei die Zeit für eine neue Sozial- und Finanzpolitik gekommen.
WOZ: Cédric Wermuth, der Bundesrat hat am Mittwoch seinen Vorschlag zur Finanzierung der 13. AHV-Rente vorgestellt: Sie soll allein über die Mehrwertsteuer finanziert, der Bundesbeitrag an die AHV gesenkt werden. Was halten Sie von diesem Beschluss?
Cédric Wermuth: Die Finanzierung über die unsoziale Mehrwertsteuer ist nicht unsere Wunschvariante. Wir werden im Parlament für eine Finanzierung über Lohnprozente kämpfen. Sicher werden wir aber die Hand reichen für einen Kompromiss, damit die 13. AHV sowohl mittels Lohnprozenten wie auch über die Mehrwertsteuer finanziert werden kann. Absolut inakzeptabel ist für uns die Senkung des Bundesbeitrags. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Bundeshaushalt auf Kosten der AHV saniert werden soll. Und das in einem Moment, wo die Stimmbevölkerung in aller Klarheit einen Ausbau beschlossen hat.
Vor dem Entscheid des Bundesrats schickte die Fehlprognose des Bundesamts für Sozialversicherungen die Politik auf eine Achterbahnfahrt. Welche Lehre ziehen Sie daraus?
In dieser Geschichte offenbart sich eine zentrale Lektion: Gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich – auch ohne fehlerhafte Formeln – offensichtlich nicht mit mathematischer Präzision voraussagen, das ist bestenfalls eine schöne Wunschvorstellung. Im schlechtesten Fall lassen sich solche datenbasierten Prognosen politisch missbrauchen, wie das die FDP und SVP bei den Rentenreformen getan haben und immer noch tun. Hier müssen wir die Logik umkehren – und von der Frage ausgehen, welche Renten wir für unsere Eltern und Grosseltern wollen und wie wir sie finanzieren.
Die FDP veranstaltet seit Jahren viel Lärm, verbreitete Schreckensszenarien zur Finanzlage der AHV und forderte, die Finanzierung müsse rasch mit einer Rentenaltererhöhung geklärt werden. Welche Strategie erwarten Sie nun von den Bürgerlichen?
Die neoliberale Politik hat immer versucht zu sagen: Wir müssen jetzt den Gürtel enger schnallen, damit es übermorgen besser wird. So konnte sich das Kapital immer mehr aus der Verantwortung ziehen. Nur kommt das bessere Morgen aber seit dreissig Jahren nicht. FDP, SVP und GLP gingen sogar noch weiter als der Bundesrat: Sie spielten auf Zeit, denn sie wollen die 13. AHV-Rente nicht. Sie versuchten, die Finanzierung hinauszuzögern, damit die Zahlen wieder schlechter aussehen und ihnen in die Hände spielen.
Dabei liess die Annahme der Initiative im März keine Fragen offen. FDP und SVP foutieren sich offensichtlich um den Volkswillen. Wie interpretieren Sie dieses Verhalten?
Das Ja zur 13. AHV-Rente ist für mich die Ankunft des real existierenden Volkes in Bundesbern: Damit möchte ich sagen, dass die bürgerliche Mehrheit in Bern die wirkliche ökonomische Situation der Leute im Land schlicht nicht kennt. Die Menschen wollen sich offenbar nicht mehr von den bürgerlichen Parteien und den Wirtschaftsverbänden vorschreiben lassen, was man sich leisten kann und was nicht. Die Mehrheit der FDP- und SVP-Politiker:innen in Bundesbern konnten sich gar nicht vorstellen, dass es soziale Ängste oder Altersarmut gibt. Sie haben diese immer mit pseudowissenschaftlicher Prognostik ausgeblendet – und so versucht, die Rentenfrage zu entpolitisieren. Als ginge es dabei nur um Automatismen statt um Menschen.
Wie konnte es so weit kommen?
Zumindest die Spitzen dieser Parteien bewegen sich in finanziellen Sphären weit weg von Menschen mit tiefen und normalen Einkommen – und damit von der grossen Mehrheit der Bevölkerung. Sie haben die Bodenhaftung verloren. FDP und SVP sowie die Wirtschaftsverbände waren es bisher gewohnt, dass sie definieren, was in der Wirtschafts- und Finanzpolitik richtig sei. Dass nun wie bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente eine Mehrheit sich getraut, die ideologischen Glaubenssätze infrage zu stellen, ist unerträglich für sie. Schon Walter Benjamin hat festgestellt, dass Kapitalismus eine Religion ist. Das hat sich bei der Rentenabstimmung erneut gezeigt.
Wie erklären Sie sich die Aggressivität der FDP?
Die FDP hat sich in fast allen Politikfeldern der SVP unterworfen – von der Migration bis zur Bildung. Als Alleinstellungsmerkmal ist ihr vermeintlich nur noch die rigide Finanzpolitik geblieben. Dieses Feld verteidigt sie mit Zähnen und Klauen.
Auch die BVG-Vorlage wird im September womöglich an der Urne scheitern. Eine erste Umfrage lässt eine deutliche Ablehnung vermuten. Ist damit die bürgerliche Reformpolitik am Ende?
Zuerst müssen wir diese Abstimmung gewinnen. In der zweiten Säule gibt es drei Kernprobleme: Die Renten werden nicht an die Teuerung angepasst, die Betreuungs- und Erziehungsarbeit der Frauen wird nicht anerkannt und die Abzockerei der Finanzindustrie geht ungebremst weiter. Die vorliegende Reform löst keines dieser Probleme. Wenn sie abgelehnt wird, sollten die Bürgerlichen endlich verstehen, dass die Menschen für ihre Lebensleistung Respekt erwarten. Sie sind wütend, dass die Politik sie ignoriert – und gleichzeitig immer Geld da war, wenn Konzerne und Reiche neue Privilegien verlangten.
Warum geht die Linke nicht schon jetzt in die Offensive? Die Fehlprognosen, so ärgerlich sie sein mögen, spielen ihr ja in die Hände.
Wir wollen die Leistungen in der AHV auch nach Annahme der 13. AHV-Rente noch weiter ausbauen. Denn diese ist nur ein Ausgleich für den Kaufkraftverlust der vergangenen Jahre. Die Renten erfüllen den Verfassungsauftrag nach wie vor nicht. Und ja, es sollte selbstverständlich sein, dass jetzt auch Menschen mit Behinderungen eine 13. IV-Rente bekommen.
Die Bürgerlichen inklusive GLP haben vor der Abstimmung über die Rentenaltererhöhung der Frauen ihre Reihen geschlossen und knapp gewonnen. Diese Koalition bröckelt. Die Mitte schert aus. Kann die SP mit ihr und den Grünen künftig Mehrheiten in der Sozial- und Rentenpolitik schaffen?
Die GLP schwimmt in diesen Fragen hart im Fahrwasser der FDP. Ich hoffe, dass Die Mitte in Abgrenzung zur FDP eine eigenständige Sozial- und Wirtschaftspolitik entwickelt. Die Partei ist sozialpolitisch sensibler, auch aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Mitglieder. Mehrheiten in Bern von Fall zu Fall zu finden, ist denkbar. Spätestens seit diesem Jahr wissen wir, dass wir auch an der Urne sozialpolitischen Fortschritt erreichen können. Dahinter steckt jahrelange Aufbauarbeit, gerade von den Gewerkschaften. Damit die Rechten im Parlament ihre ideologischen Bastionen verlassen, müssen sie an der Urne nicht eine, sondern zwei, drei, viele Niederlagen erleiden.
Rentenpolitik ist auch Verteilungskampf. Finanzministerin Karin Keller-Sutter hat eine Expertengruppe beauftragt, um das Sparpotenzial im Bundeshaushalt auszuloten. Was erwarten Sie von diesen Auseinandersetzungen?
Wir werden die Abbauvorschläge in gut einem Monat kennen. Ich gehe davon aus, dass diese Expertengruppe um den einschlägig bekannten rechtsliberalen Ökonomen Christoph Schaltegger die Spielräume derart einschränken möchte, dass am Ende die gebundenen Ausgaben des Bundes ins Visier geraten könnten. Dann wird es schnell um tiefe Einschnitte gehen, gerade in der Sozialpolitik. Die SP wird auch deswegen an ihrem Parteitag im Oktober ein Papier zur Finanzpolitik präsentieren. Es ist ja mittlerweile fern jeglicher ökonomischer Vernunft, wie wir in der Schweiz über Staatsfinanzen diskutieren.
Inwiefern?
Erstens schwimmt das Land im Geld, es ist nur falsch verteilt. Und zweitens hat die Schweiz eine der tiefsten Schuldenquoten weltweit. Wir haben grosse finanzpolitische Gestaltungsräume. Es ist bloss eine Frage des politischen Willens, ob wir uns staatlich finanzierte Kitas leisten oder ob wir den Klimawandel ernsthaft bekämpfen wollen. Auch einen Beitrag an den Wiederaufbau in der Ukraine könnten wir problemlos finanzieren – oder höhere Renten.
Im Jahr 2026 kommt eine neue AHV-Reform ins Parlament. Ist die SP bereit, den Rentenalterfetisch 65 aufzugeben und ein flexibleres Rentenalter zu diskutieren?
Das flexible Rentenalter gibt es ja bereits. Einfach nur für Reiche. Die können es sich leisten, vor 65 in Rente zu gehen, viele machen das auch. Menschen mit bescheidenem Einkommen müssen in der Regel bis zum gesetzlichen Rentenalter durchhalten, haben eine tiefere Lebenserwartung und schlechtere Renten. Über eine ernsthafte Flexibilisierung kann man mit uns sehr gerne reden, auch über Modelle der Lebensarbeitszeit. Aber nicht auf Kosten der tiefen und mittleren Einkommensklassen.