Durch den Monat mit Ursula Fuchs-Egli (Teil 2): Wie bleibt mein Kind psychisch stabil?
Seit Corona sieht die Basler Jugendpsychiaterin Ursula Fuchs-Egli in ihrer Praxis vermehrt Jugendliche mit Ängsten und Zwangsstörungen. Den Eltern rät sie, nicht wegzuschauen.
WOZ: Frau Fuchs-Egli, mit dreissig wurden Sie von einem einparkierenden Auto angefahren, erlitten ein Schleudertrauma und hatten zwanzig Jahre lang chronische Schmerzen. Therapiert man als Schmerzpatientin anders?
Ursula Fuchs-Egli: Definitiv. Nach dem Unfall wurde mir das Zusammenspiel von Psyche und Körper ganz neu bewusst. Früher fragte ich nach psychischen Symptomen, die ich Kategorien in meinem Kopf zuordnete. Ich blieb bei den Kategorien, statt zu differenzieren: Wie genau fühlt sich etwas an? Emotionen haben immer einen körperlichen Teil, die finden nicht nur im Kopf statt. Man sagt ja auch: «Mir liegt was auf dem Magen.» Das kommt nicht von ungefähr.
Wie reagieren Jugendliche auf solche Fragen?
Als Erstes schauen sie mich komisch an. Zum Beispiel bei Angststörungen. «Ich hab doch einfach Angst», heisst es da oft. Ich frage dann noch mal: «Was nimmst du wahr?» Und dann geht vielen der Knopf auf. Sie fangen an zu überlegen, wo sich die Angst im Körper zeigt. Das Herz schlägt, die Hände schwitzen, man zittert.
Was bringt dieses Vorgehen therapeutisch?
Es hilft, die Wahrnehmung zu schulen. Die Jugendlichen fangen an, sich differenzierter zu betrachten. Sie lernen, dass ihr Körper auf Emotionen reagiert. Und können einen Schritt zurück machen: Wenn mein Herz schlägt, bedeutet das nicht, dass ich sterben muss. Ich habe einfach Angst. Und das ist okay.
Was können Eltern beitragen, damit ihr Kind psychisch stabil bleibt?
Hilfreich ist ein Familienklima, in dem über Schönes und Schwieriges gesprochen werden kann. Eine Umgebung, in der die Kinder als Persönlichkeit wahrgenommen werden, wo sie gefördert und gefordert werden. Und in der Emotionen Platz haben und sein dürfen. Wenn die Eltern vorleben, dass man nicht perfekt sein muss, um geliebt zu werden. Und dass Schwierigkeiten dazu da sind, um sich in der Auseinandersetzung damit weiterzuentwickeln.
Bei welchen Zeichen sollten Eltern aufhorchen?
Sozialer Rückzug, Leistungsabfall in der Schule beziehungsweise Lehre oder Nullbockstimmung über längere Zeit. Selbstverletzungen und Suizidgedanken sind ebenfalls Hilferufe, die unbedingt gehört werden müssen. Aber es ist durchaus auch normal, dass Jugendliche den Eltern nicht alles erzählen.
Die Zahl psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher ist seit Corona deutlich gestiegen. In einer Unicef-Studie von 2021 gaben 37 Prozent der befragten Jugendlichen an, von psychischen Problemen betroffen zu sein. Alarmieren Sie solche Zahlen?
Ja, diese Zahlen sind alarmierend. Ein Teil davon dürfte mit der langsam stattfindenden Enttabuisierung psychischer Belastungen zusammenhängen. Aber wohl nur ein Teil. Pandemie, Kriege, soziale Ungleichheiten, Klimaveränderung – wen belasten diese Themen nicht? Da ist es nicht verwunderlich, wenn Jugendliche Zukunftsängste haben und keine Perspektive sehen. Und wenn sie erleben, dass auch die älteren Generationen und die Eltern verunsichert sind, gibt ihnen das wenig Boden. Zudem machen es die gefühlt unendlichen Möglichkeiten von Individualisierung nicht einfacher, eine innere Stabilität zu entwickeln.
Haben sich die Anliegen der Jugendlichen, die zu Ihnen kommen, in den letzten Jahren verändert?
Es kommen mehr Jugendliche mit Depressionen oder Angstzuständen. Vermehrt sehe ich auch Zwangsverhalten – meines Erachtens eine Kompensationsstrategie für Ängste jeglicher Art. Ich habe jetzt zum Beispiel gerade eine Jugendliche, die ununterbrochen ihr Verhalten hinterfragt – und zwar in jeder Situation, die sie im Alltag erlebt hat. Sie weiss, dass ihr diese Gedanken nicht guttun, aber allein findet sie nicht aus ihnen heraus.
Welche Ängste stecken da dahinter?
Die Angst, etwas falsch gemacht zu haben, nicht dazuzugehören, sozial ausgeschlossen zu sein, nicht zu passen. Auch die Angst, etwas nicht im Griff zu haben, etwas zu denken oder zu machen, wofür ich mich schäme. Zwangsverhalten sind meist sehr schambehaftet, Betroffene sehe ich erst, wenn der Leidensdruck riesig geworden ist.
Seit der Pandemie ist das Bewusstsein für psychische Erkrankungen doch gestiegen. Ist das bei Jugendlichen anders?
Es kommt sehr drauf an, in welchem Umfeld man sich bewegt. Natürlich gibt es – erfreulicherweise – ein gesteigertes Bewusstsein für solche Themen. Aber in der Praxis mache ich die Erfahrung, dass es oft sehr lange dauert, bis sich die Jugendlichen jemandem anvertrauen. Die meisten möchten ihre Eltern nicht belasten, ihnen keine Sorgen bereiten. Oft sind ja auch die Eltern selbst belastet – auch da sind Unsicherheiten und existenzielle Ängste häufig, die Kinder sollen «gut herauskommen» und ihr Potenzial ausschöpfen. Das ist ein grosser Druck für die Eltern, den die Jugendlichen spüren, aber schlecht einordnen können. Und es ist in der Gesellschaft immer noch viel einfacher, über ein gebrochenes Bein zu sprechen als über Versagensängste.
Bei Ursula Fuchs-Egli (58) sitzt die Angst im Schulter-, Nacken- und Brustbereich. Dagegen hilft: tief durchatmen, sich aufrichten, bewusst entspannen.