Durch den Monat mit Ursula Fuchs-Egli (4): Was ist uns unsere Gesundheit wert?
Die Basler Kinder- und Jugendpsychiaterin Ursula Fuchs-Egli wird am 9. Juni für die Prämien-Entlastungs-Initiative stimmen. Geflickt sei das Gesundheitssystem damit aber noch lange nicht.
WOZ: Frau Fuchs-Egli, die Schweiz hat eine der höchsten Dichten an Psychiater:innen in Europa. Trotzdem herrscht chronischer Fachkräftemangel. Wie kann das sein?
Ursula Fuchs-Egli: Ein Grund ist sicher die steigende Nachfrage. Menschen gestehen sich eher zu, Therapie in Anspruch zu nehmen. Ein anderer Grund ist der immer höhere administrative Aufwand, besonders für Psychiater:innen, die in Kliniken arbeiten. Und sicher auch die fehlende Attraktivität unseres Berufs.
Unter Ärzt:innen sind Kinder- und Jugendpsychiater:innen am untersten Ende der Lohnskala, sie verdienen deutlich weniger als Kolleg:innen etwa aus der Chirurgie. Dabei ist ihre Arbeit genauso fundamental.
Klar. Aber sie ist weniger sichtbar, weniger spektakulär.
Wie oft wurde Ihre Arbeit schon von Kolleg:innen belächelt?
Unzählige Male. «Das bisschen Reden, das könnte ich ja auch.» (Lacht.) Aber natürlich ist es eine Frage des Stellenwerts: Wieso ist eine Herzoperation mehr wert als die Arbeit mit psychisch Erkrankten?
Weil sie unmittelbar Leben rettet?
Genau. Und weil es dazu teure Geräte braucht, deren Nutzung sich abrechnen lässt. In der Psychotherapie gibt es nur mich und die Patient:in. Der Prozess dauert länger, es ist eine andere Form der Lebensrettung. Aber ist sie deshalb weniger wert?
Hat Sie diese fehlende Wertschätzung nie abgeschreckt?
Mir war es wichtig, etwas zu machen, das mir liegt. Während meiner Ausbildung musste ich im Operationssaal einen Teil von mir abspalten, um zu funktionieren. Wenn ich wusste, Frau Meier liegt auf dem Tisch, ihr geht es nicht gut, und wir schneiden der jetzt den Bauch auf – da hätte mein System nicht mitgemacht. Wenn ich den mitfühlenden Anteil aber wegschob und nur den Organismus vor mir sah, war es spannend. Irgendwann wollte ich mich aber nicht mehr spalten. Mein empathischer Anteil bedeutet mir viel. Und er ist ein wichtiges Werkzeug in der Psychotherapie.
In der NZZ war kürzlich von einer «eingebildeten Krise» die Rede. Menschen mit nichtigen Problemen würden Therapieplätze besetzen, während diejenigen mit den wirklichen Problemen hängen gelassen würden.
Wer beurteilt denn, was ein «wirkliches» Problem ist? Wenn ein Mensch irgendwo ansteht und darum zu mir kommt – wer bin ich dann, zu sagen, jetzt reiss dich mal zusammen? Kleinreden bringt das Problem nicht zum Verschwinden. In einem Punkt stimme ich aber zu: Für die wirklich schweren psychiatrischen Fälle gibt es in der Schweiz seit Jahren eine Versorgungslücke. Daran sind aber nicht die Patient:innen schuld, sondern das System.
Inwiefern?
Stichwort Drehtürpsychiatrie: Jemand kommt notfallmässig in die Klinik und muss so behandelt werden, dass er oder sie so schnell wie möglich wieder entlassen werden kann. Dann hat die Person keine ambulante Anschlusslösung, oder sie bräuchte ein angemessenes Setting an Tagesstruktur und Therapie, das nicht ermöglicht werden kann. Das hat auch mit den Tarifen zu tun, über die wir abrechnen. Diese decken weder ambulante noch stationäre Angebote angemessen ab. Nach kurzer Zeit steht die Person also wieder vor dem Notfall. Teilstationäre Angebote wie Tageskliniken für Jugendliche sind darum kaum existent. Am 9. Juni stimmen wir über die Prämien-Entlastungs-Initiative ab. Für viele würde ein Ja eine grosse Entlastung darstellen.
Was bedeutet die Initiative für Sie?
Sie setzt bei den Zahlenden an. Dass jemand aus dem Niedriglohnsektor gleich viel für das Mindeste an Gesundheitsversorgung bezahlen muss wie ein Manager, ist nicht gerecht. Aber grundsätzlich löst die Initiative keins der Probleme im Gesundheitswesen.
Wo müsste stattdessen angesetzt werden?
Wir müssen von der Prämisse wegkommen, auf der unser System fusst: Gesundheit ist kein Markt. Patient:innen dürfen nicht als Kund:innen verstanden werden, die sich Angebote leisten können oder nicht. Für mich schwingen aber auch viel grundlegendere Fragen mit: Muss der Tod wirklich mit aller Vehemenz hinausgezögert werden? Braucht ein Neunzigjähriger noch eine neue Niere, eine teure Krebstherapie? Wollen wir uns das als Gesellschaft leisten?
Für eine Ärztin sind das gewagte Aussagen – Sie sind schliesslich dazu da, Menschen am Leben zu erhalten, ihnen zu helfen.
Was bedeutet denn Helfen? Kann ich Menschen auch helfen, indem ich ihnen eine besonders gute Palliativversorgung ermögliche? Indem wir gemeinsam versuchen, den Tod zu akzeptieren? Diesen Makel der Vergänglichkeit nicht ständig beheben zu wollen – das ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Sterben ist gesellschaftlich nicht anerkannt, obwohl es etwas vom wenigen ist, das uns ausnahmslos alle angeht. Gerade in unserer Gesellschaft, in der so viele Möglichkeiten, die wir zur Verfügung haben, ungleich verteilt sind, müssen wir uns diesen Fragen stellen.
Ursula Fuchs-Egli (58) spürt die steigende Nachfrage auch bei sich in der Praxis: Jede Woche muss sie Anfragen von jungen Menschen aus Kapazitätsgründen abweisen.