Literatur: Im falschen Wien angekommen

Nr. 19 –

In ihrem fulminanten Debüt «Ein schönes Ausländerkind» erzählt die österreichische Satirikerin Toxische Pommes vom Erwachsenwerden in einem Land, das selten ein «Servus» für jene übrig hat, die nicht darin geboren sind.

Portraitfoto der österreichischen Satirikerin Toxische Pommes
Als Anwältin tätig und für Kürzestvideos auf Tiktok bekannt: Nun seziert Toxische Pommes in ihrem ersten Roman «Balkanmentalitäten» und Stereotype. Foto: Muhassad Al-Ani

«Ćuti bre, pala nam je sekira u med!», sagt der Vater, wenn dem Kind etwas nicht passt: «Halt die Klappe, uns ist die Axt in den Honig gefallen!» Wie ein Honiglecken fühlt es sich für die Ich-Erzählerin nicht an, das Leben mit ihren Eltern im Nebenhaus einer wohlhabenden Familie, umgeben von einem aufgeräumten Grundstück, auf dem die Thujen so akkurat getrimmt sind, «dass man sich an ihren Kanten vermutlich einen Zahn ausschlagen konnte».

Wir befinden uns in den neunziger Jahren, die Jahreszeiten sind noch «intakt», die Familie flüchtete vor dem Jugoslawienkrieg aus Kroatien. USA oder Österreich kamen infrage – man entschied sich für Letzteres. Mit Bildern eines pompösen Wien im Kopf landen sie in Wiener Neustadt, einer Industriestadt fünfzig Kilometer südlich der Metropole: Das einzige Historische seien hier neben dem römisch-katholischen Dom im Stadtzentrum «die alten Frauen in der Fussgängerzone, die ihre Malteserhunde an sich zerrten und ihre Handtaschen näher an ihre Körper drückten, sobald sie meine Eltern sprechen hörten»: So heisst es im Erstling von Toxische Pommes, «Ein schönes Ausländerkind», der seit seinem Erscheinen im März breit rezipiert und begeistert kommentiert wurde.

Bobo Lorenz und Rassismus-Renate

Über Tiktok und Instagram erreicht die Satirikerin Hunderttausende. Irina heisst sie, ihren vollen Namen gibt sie nicht bekannt. Sie sei aus einer toxischen Beziehung gekommen und möge halt Pommes, erklärt sie trocken, wenn Medien sie nach ihrem Künstlerinnennamen fragen. Toxische Pommes arbeitet als Anwältin in Wien. Ihre oftmals Kürzestvideos tragen Titel wie «Gen Z Boys, nachdem sie ihre Freundin umgebracht haben» («Tut mir echt leid, aber sie hat echt fettes Childhood-Trauma bei mir getriggert»). Toxische Pommes seziert vermeintliche «Balkanmentalitäten», parodiert die österreichische Gesellschaft und exjugoslawische Stereotype, mimt mal den linken, auf seinen Vorteil bedachten Pseudofeministen Bobo Lorenz, mal das österreichische Pendant zur US-amerikanischen «Karen»: die argwöhnische Rassismus-Renate.

So erstaunt es erst mal nicht, ist auch die erste Gast- und Arbeitgeberin in ihrem Debüt – der Verlag bezeichnet es als autofiktional – eine hinterhältige, bigotte und unverhohlen rassistische Frau, die die Familie im Nebenhaus leben lässt und dafür die Mutter der Ich-Erzählerin für Haus- und Erziehungsarbeit vereinnahmt. Renate heisst auch sie, genauer Renate Hell. Wer jetzt aber denkt, «Ein schönes Ausländerkind» lebe bloss von satirischer Zuspitzung, hat sich getäuscht. Die gibt es hier zwar auch, etwa wenn die Protagonistin die «verführerische Schönheit des Kapitalismus» entdeckt und die Offbrand-Barbies, die sie von ihren Verwandten bekommen hat, mit jenen in Wien zu vergleichen beginnt: «Im Gegensatz dazu wirkten meine Puppen mit ihren übertrieben aufgerissenen Mäulern und dem blauen Lidschatten, als hätten sie sich auf dem Villacher Fasching Pferdebetäubungsmittel gespritzt.»

Arielle, der Vater

Mehr noch als mit satirischen Überzeichnungen überzeugt der Roman aber mit einer Dringlichkeit, die in leisen Tönen daherkommt. So zeichnet Toxische Pommes das feine Bild eines Vaters, der unfreiwillig einen Grossteil der Sorge-, Haus- und Erziehungsarbeit übernimmt, weil er ohne Arbeitserlaubnis die Wohnung selten verlässt – bis sie irgendwann zu seinem Refugium wird. Erst liebt ihn das Kind dafür; die beiden spielen «König der Löwen» oder verbringen ihre gemeinsame Zeit im Hallenbad. Irgendwann aber hat es den Vater «überholt». Dafür findet Toxische Pommes berührend-schmerzhafte Sprachbilder: «Genauso wie Arielle, die Meerjungfrau, sobald sie die Welt über Wasser betritt, nicht nur ihre Flossen, sondern auch ihre Stimme verliert, hatte auch mein Vater ausserhalb von Renates Nebenhaus nichts mehr zu sagen. Hier drehten sich unsere Rollen nun um, denn obwohl ich weniger von ihr gesehen hatte, konnte ich durch die Welt über Wasser bald besser navigieren als er.» Als Hausmann macht dieser Vater die «sogenannte Integration» für die Ich-Erzählerin und ihre Mutter überhaupt erst möglich.

Das Selbstwertgefühl des Vaters verändert sich in den drei Wochen, für die die Familie jedes Jahr die Verwandten und Bekannten besucht, den Renault 4 vollbepackt mit Geschenken, «Ex-Yu-Poprocksongs» aus der Autoanlage. Dann sinniert auch die Tochter darüber, wie ihr Leben in Kroatien verlaufen wäre, und stellt gleichzeitig fest, dass sich Österreich immer dann am meisten wie ihr Zuhause anfühle, wenn sie nicht dort sei.

Im Verlauf des Buches erreichen sie und ihre Mutter das, was die Familie in Wien schaffen wollte: gute Jobs, etwas Geld, eine grössere Wohnung. «Trotz alldem fühle ich mich innerlich tot», schreibt die Protagonistin – unterdessen Vertragsbedienstete bei einer Behörde. Und baut sich eines Mittags unter ihrem Bürotisch kurzerhand ein Bett. Die bittere Bilanz, sie kommt zum Ende des Buches: «Was hat uns Österreich gekostet? Meinen Vater seine Stimme, meine Mutter ihre Lebendigkeit. Und mich? Meinen Vater.»

Buchcover von «Ein schönes Ausländerkind»
Toxische Pommes: «Ein schönes Ausländerkind». Paul Zsolnay Verlag. Wien 2024. 208 Seiten. 34 Franken.

Toxische Pommes liest in Bern, Buchhandlung Stauffacher, Mo, 13. Mai 2024, 20 Uhr, und in Basel, Sommercasino, Di, 14. Mai 2024, 19.30 Uhr.