Eingeschlossen in Gaza : «Mir bleibt nur ein Traum»

Nr. 21 –

Gemeinsam mit 1,5 Millionen anderen suchten sie in Rafah Schutz vor dem Krieg: Drei Palästinenser:innen berichten von der Sorge um ihre Liebsten und von dem, was ihnen Kraft gibt.

«Für mich fehlte das Geld»

«Die Hand meiner Tochter klebte von innen an der Fensterscheibe des Busses, mit dem meine Familie Gaza verliess. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Umgerechnet haben wir über 15 500 Schweizer Franken bezahlt, um meine Frau und unsere vier Kinder in Sicherheit bringen zu können. Für mich fehlte das Geld. Als ich meine Familie zur Grenze brachte, flehte ich den ägyptischen Grenzbeamten an, sie begleiten zu dürfen. Er lehnte ab. Seitdem fühlt es sich an, als fehle ein Teil meines Herzens.

Um die Grenze zu überqueren, muss man für die ‹Koordination› viel Geld hinblättern: Bezahlt man 4500 Franken pro Person, dauert es zwischen dreissig und vierzig Tage, bis man auf der Ausreiseliste erscheint. Zahlt man zwischen 9000 und 10 000 Franken, dauert es etwa eine Woche.

Meine grösste Sorge gilt unserem fünfjährigen Sohn Omer. Bei ihm wurde ein Hämangiom am linken Schläfenbein diagnostiziert, ein Tumor. Das ist eine sehr seltene Erkrankung. In Gaza kann sie nicht behandelt werden, weil die Ausstattung dafür fehlt. Vor dem Krieg wurde Omer deshalb mehrfach im hochqualifizierten Jerusalemer Krankenhaus Shaare Zedek behandelt. Im November hätte er einen Termin für einen dringenden Eingriff gehabt – doch wegen des Krieges wurde dieser abgesagt. Jetzt hat sich beim Tumor Eiter angesammelt, und die Wunde hat sich stark entzündet. Omer hört deshalb nicht mehr gut.

Wie alle meine Kinder hatte er grosse Angst vor den Bomben. Am Anfang habe ich versucht, ihnen weiszumachen, es sei nur ein Spass. Aber mein ältester Sohn ist vierzehn, er weiss, wie sich Krieg anhört. Sie wussten schnell, dass es kein Spiel ist. Ich liess sie oft auf dem Handy Spiele spielen, damit sie abgelenkt sind. Aber die Angst war allgegenwärtig, und sie wurden von Albträumen geplagt. Vor einigen Wochen landete ein Schrapnell direkt auf unserem Zelt, aber Gott hat uns beschützt, wir wurden nicht verletzt.

Nun braucht Omer dringend eine Behandlung in einem gut ausgerüsteten Spital. Ich bin selbst Arzt, aber ich kann meinem Sohn nicht helfen. 2022 hatte ich ein Erasmus-Mundus-Stipendium erhalten, um in Spanien Gesundheitswissenschaften zu studieren. Doch wegen Omers schlechter gesundheitlicher Situation bin ich noch im ersten Semester nach Gaza zurückgekehrt. Einige befreundete Kommiliton:innen aus der Zeit versuchen uns nun zu helfen. Sie haben auf ‹Go Fund Me› für Omers Behandlung und unsere Sicherheit eine Crowdfunding-Kampagne gestartet.

Doch nun hält Israel den Grenzübergang nach Ägypten besetzt. Niemand kommt mehr raus. Ich bin ein weiteres Mal geflohen, nach al-Mawasi nördlich von Rafah. Mit meinem Vater, meiner Mutter, zwei Brüdern und zwei Schwestern lebe ich in einem Zelt. Hier stehen Zelte, so weit das Auge reicht.

Sauberes Trinkwasser kann man nur für viel Geld kaufen. Infektionskrankheiten wie Hepatitis A, Durchfallerkrankungen und Hautkrankheiten breiten sich aus; und die Mücken – die wegen des stehenden Abwassers gedeihen – treiben die Menschen in den Wahnsinn. Hinzu kommen die hohen Temperaturen, vor denen wir uns nicht schützen können. Zu essen gibt es fast nur Nahrung aus Konserven, vor allem Bohnen und Thunfisch. Und die Preise dafür steigen wieder steil an.

Nachts wache ich von Bombengeräuschen auf oder vom Lärm von schiessenden Panzern. Jeden Morgen danke ich Gott, dass meine Familie und ich noch am Leben sind. Dann hören wir wieder, dass ein Freund, ein Nachbar oder ein Kollege durch eine willkürliche Bombardierung ums Leben gekommen ist. Meine Träume haben sich in Luft aufgelöst. Ich hatte einen Bekannten von mir gebeten, nach unserem Haus zu sehen. Er schickte mir ein Foto: Es liegt wortwörtlich in Schutt und Asche. Meine Frau wurde ohnmächtig, als ich es ihr erzählte.

So bleibt mir nur noch ein Traum: diesen schrecklichen Krieg zu überleben und zu meiner kleinen Familie nach Ägypten zu gelangen.»

Muhammad Musa (40) ist Arzt. Bei Kriegsbeginn ist er mit seiner Familie von Gaza-Stadt nach Rafah geflohen. Mitte April konnten seine Frau und die vier Kinder nach Ägypten fliehen.

«Es gibt in ganz Gaza keinen sicheren Ort»

«Am 10. Mai erhielten wir von der israelischen Armee eine Nachricht aufs Handy, dass wir nach al-Mawasi, in das als sicher designierte Gebiet, ziehen sollten. Schon zwei Tage zuvor hatte sie die Bombardierungen in Rafah verstärkt. Es handelte sich wohl um die Vorbereitungen für die Invasion, aber wir wollten das nicht glauben. Wir hatten ein Waffenstillstandsabkommen erwartet.

Also flohen meine Familie und ich erneut. Nun teilen wir uns mit zwei meiner Brüder und deren Familien eine Mietwohnung in al-Mawasi. Die Miete kostet monatlich knapp 3000 Schweizer Franken, für Gaza ein extrem hoher Preis. Doch selbst ein Zelt kostet umgerechnet rund 1000 Franken – und es ist sehr schwer, eines zu finden, da Hunderttausende zur selben Zeit aus dem Osten und dem Zentrum von Rafah geflohen sind.

Das Geräusch von Drohnen begleitet uns permanent. Immer wieder hören wir Bombenangriffe. Auch wenn dieses Gebiet als sicher bezeichnet wird, glauben Sie mir, das ist es nur für die Medien. Es gibt in ganz Gaza keinen sicheren Ort.

Immerhin konnten wir vor einem Monat die ‹Koordinationsgebühren› für meine Mutter auftreiben, 4500 Franken. So heissen in der ägyptischen Bürokratie die notwendigen Gelder, um auf die Ausreiseliste zu kommen. Es sind horrende Summen. Glücklicherweise konnte meine Mutter fliehen, bevor die Invasion startete und Israel den Grenzübergang besetzte. Seitdem kommt niemand mehr raus.

Meine Mutter ist neunzig Jahre alt, dieses Leben ohne Strom, Wasser, Essen und Körperpflege war sehr beschwerlich für sie.

Ich arbeite tagsüber in einem provisorisch aufgebauten medizinischen Zentrum in al-Mawasi. Manchmal an der freien Luft, manchmal in einem Zelt. Früher hätte ich nicht geglaubt, was ich jetzt, wo ich selbst Flüchtling bin, mit eigenen Augen sehe: dass Menschen in der Hilfslieferungskette – von hochrangigen Offiziellen an den Grenzübergängen bis hin zu den Helfer:innen in den Unterkünften – die Hilfslieferungen nicht verteilen, sondern sie an sich nehmen und für viel Geld weiterverkaufen. High-Energy-Riegel aus Datteln zum Beispiel, die Unterernährung vorbeugen, sollten jeden Tag an Kinder verteilt werden. Aber sie werden nie verteilt. Stattdessen kann man sie für viel Geld auf dem Markt kaufen.

Manchmal sitzen wir abends zusammen und sehen uns das Foto von unserem Haus in Gaza-Stadt an. Es ist ein wunderschönes Haus, und wir wissen, dass es noch steht, wenn auch die Türen, Fenster und Wände beschädigt sind. Dann denken wir an den letzten Geburtstag unserer Tochter, den wir dort verbracht haben, und stellen uns vor, wie wir zurückkehren.

Aber ich mag all das kaum laut aussprechen, denn wer weiss schon, ob es jemals dazu kommen wird? Meine Frau und meine Kinder verlieren immer mehr die Hoffnung auf ein Ende des Krieges. Sie haben Angst um ihr Leben und fragen sich, wie es weitergehen soll. Sie werfen mir vor, dass wir nicht rechtzeitig vor der Schliessung des Grenzübergangs nach Ägypten ausgereist sind. Dabei wissen sie, dass ich kein Geld für die ‹Koordination› habe. Wir alle kämpfen mit der Ungewissheit, mit der schwindenden Hoffnung und mit der Frage, wo man sich in Sicherheit bringen kann. Und ich als Vater habe keine Antwort darauf.»

Der Arzt Bassam Sakut (50) floh wenige Tage nach dem 7. Oktober mit seiner Frau, seinen Kindern (14 und 16) und seiner 90-jährigen Mutter aus Gaza-Stadt nach Chan Junis, von dort im Januar weiter nach Rafah.

«Ich schlafe jeden Abend mit Angst ein»

«Ein Mädchen, um das ich mich in Rafah kümmere, bewegt mich ganz besonders. Sie ist dreieinhalb Jahre alt. Ihre gesamte Familie wurde bei einer Bombardierung in Chan Junis getötet. Eine andere Familie zog das kleine Mädchen lebend unter den Trümmern hervor und nahm es auf. Kurz darauf floh sie mit dem Mädchen nach Rafah. Seitdem leben sie hier in einem Zelt.

Ich gehe alle paar Tage zu ihr, um ihr ein Spielzeug zu bringen oder irgendetwas, das ihr hilft, sich sicher zu fühlen. Manchmal fragt sie beim Spielen nach ihrer Mutter und ihren Schwestern und weint. Ich frage sie dann, wie ihre Schwestern früher mit ihr gespielt haben, damit ich es möglichst nachahmen kann.

Mit den spielerischen Aktivitäten möchte ich den Kindern eine Möglichkeit geben, Freude zu empfinden. Manchmal wird das Spiel auch zu einer Möglichkeit, einer psychisch verletzten Person dabei zu helfen, aus ihrer Verzweiflung herauszukommen. Ich bin eigentlich Künstlerin, keine Psychologin, aber ich habe viel Erfahrung in Kunsttherapie und Waldorfpädagogik. Gelernt habe ich unter anderem bei deutschen Pädagog:innen, die im Gazastreifen Fortbildungen gegeben haben.

Kürzlich brachte ich dem Mädchen einen Luftballon. Ich sagte, dass sie dem Ballon ein Geheimnis verraten und ihm sagen könne, was sie am meisten nerve oder wovor sie am meisten Angst habe. Wir haben ihn dann aufgeblasen und sie durfte ihn platzen lassen.

Ich habe sie nicht gefragt, was sie dem Ballon gesagt hat, es war ja ihr Geheimnis. Aber ich habe gehört, dass sie dem Ballon zugeflüstert hat, dass sie Angst vor den Bomben hat. Auch ich schlafe jeden Abend mit der Angst ein, dass in dieser Nacht etwas passiert – und bete zu Gott, dass es nicht so sein möge.

Ich höre den geflüchteten Menschen zu, versuche zu helfen, Linderung zu verschaffen. Für mich ist dies meine Pflicht als Palästinenserin, und ich tue es auch, um die palästinensische Identität und Kultur zu stärken. Das ist das, was mir selbst Kraft gibt – und ich hoffe, dass ich bald über das Ende des Krieges berichten kann.»

Nadschala Abu Nahla (31) ist Projektmanagerin für das Kulturzentrum und Museum Mayasem in der Nähe von Chan Junis. Im November floh sie nach Rafah, entwickelte mit Mayasem einen Notfallplan und richtete eine Suppenküche für Binnenflüchtlinge ein.

Humanitäre Katastrophe: Flüchten. Aber wohin?

1,5 Millionen Menschen hatten monatelang zusammengedrängt in Rafah, der Stadt im Süden des Gazastreifens, Zuflucht gefunden. Doch mit Beginn der Offensive auf Rafah Anfang Mai besetzte die israelische Armee den Grenzübergang zu Ägypten und forderte die Binnenflüchtlinge zur Evakuierung auf. Seitdem sind Hunderttausende erneut auf der Flucht, viele von ihnen zum dritten oder vierten Mal.

Rund 150 000 Palästinenser:innen sind nach al-Mawasi geflohen. Der schmale Streifen am Meer im westlichen Teil des Gouvernements Rafah wurde von Israel als «sicherer Ort» designiert. Doch der Ort ist längst überfüllt, der Transport der Habseligkeiten kostet Geld, und über allem schwebt die Frage: Ist es hier wirklich sicherer? So fliehen andere zurück ins Zentrum Gazas, nach Chan Junis oder Deir al-Balah.

«Mit Rafah wurde der Zivilbevölkerung der letzte Rettungsanker genommen», sagt Chris Whitman von der Menschenrechtsorganisation Medico International. Er steht in ständigem Kontakt mit lokalen Partnerorganisationen. Deren Berichte zeichnen das womöglich düsterste Bild seit Beginn des Krieges: In al-Mawasi gibt es keine Spitäler und kaum Vorräte an Medikamenten. Angesichts der geschlossenen Grenzübergänge droht erneut eine Hungersnot.

Zwar ist am vergangenen Wochenende eine erste Lieferung über einen vom US-Militär eingerichteten Hafen eingetroffen. Doch im Vergleich zu den Mengen, die mit Lastwagenkonvois in den Gazastreifen gelangen könnten, seien die Hilfsgüter, die über See geliefert werden könnten, lediglich ein Tropfen auf den heissen Stein, so Whitman.