Migros: M wie Moneten
Die Migros steckt im grössten Umbau ihrer Geschichte, Hunderte Stellen sind gefährdet. Wie konnte das passieren? Ein Blick zurück zeigt: Der Firma waren Arbeiter:innen immer dann am liebsten, wenn sie sich nicht wehrten.
Die Migros ist ein schillerndes Unternehmen: Da ist der vielzitierte Gründer Gottlieb Duttweiler, Enfant terrible der Schweizer Wirtschaftsgeschichte; ein sozialliberaler Geist, aber auch ein kompromissloser Geschäftsmann und Opportunist (siehe WOZ Nr. 38/07). Da ist die genossenschaftliche Unternehmensstruktur, ein ständiger Spagat zwischen der Zentrale am Zürcher Limmatplatz und den «Regionalfürsten», wie die zehn Regionalgenossenschaftsleiter der Migros gern genannt werden, die praktisch in Eigenregie wirtschaften. Da sind die 2,2 Millionen Genossenschafter:innen, die «Leute», denen – glaubt man einer Imagekampagne aus dem Jahr 2019 – die Migros gehört.
Folgt man den vielen Analysen über den Umbau des Unternehmens, ist es gerade diese schwerfällige Struktur, die mit schuld daran ist, dass die Migros 2023 den tiefsten Gewinn seit fast vierzig Jahren eingefahren hat, trotz ausserordentlicher Beliebtheit bei den Konsument:innen. Profitabilität sei eben nur mit mehr Effizienz zu erreichen, der die Regionalfürsten im Weg stünden, so der Tenor aus den Wirtschaftsredaktionen.
Sozial und liberal
Tatsächlich steckt das Unternehmen im grössten Umbau seiner Geschichte. Neben dem einst noch von Duttweiler gegründeten Reiseanbieter Hotelplan sollen der Elektronikmarkt M-Electronics, der Sportartikelverkauf SportX und der Kosmetikhersteller Mibelle verkauft werden. Der Essenslieferdienst Food Now wird eingestellt, weitere «Weichenstellungen» folgen, wie es im «Migros-Magazin» heisst, «alles mit dem Ziel, den Kundinnen und Kunden qualitativ hochstehende Produkte zu attraktiven Preisen anzubieten».
Die Frage ist, zu welchem Preis. Nun hat sich die Migros Unternehmensberater:innen von McKinsey ins Haus geholt. Das wenig überraschende Ergebnis: Die Migros wolle Prozesse vereinfachen, schlanke Strukturen und klare Rollen schaffen, wie Peter Diethelm sagt, der CEO der Migros Supermarkt AG, eines erst im vergangenen Sommer gegründeten Konstrukts zur Zentralisierung der Supermärkte. Übersetzt heisst das: 151 Vollzeitstellen in der Zentrale Zürich wurden bereits gestrichen, weitere 100 Personen haben eine Änderungskündigung mit schlechteren Konditionen erhalten. Mehr als 1300 Stellen sollen noch wegfallen.
Dabei geht fast vergessen, wem die Migros eben nicht gehört: den 100 000 Menschen, die für das Unternehmen arbeiten – im Verkauf, in der Industrie, in der Bank. Sie kommen in den Erzählungen über die Migros neben dem Gründervater, dem Kund:innenbedürfnis und den Fehlentscheidungen der Manager:innen selten vor. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Das folgt einer historischen Kontinuität. Das Unternehmen hat sich zwar stets soziale Verantwortung auf die Fahne geschrieben. Trotzdem hatten die Angestellten schon immer wenig zu sagen.
Duttweiler gründete die Migros in der Zwischenkriegszeit nach den Prinzipien der Effizienz durch Menge, viel Umsatz, wenig Gewinn. Duttweiler sprach aber auch vom «sozialen Kapital», davon, dass «nicht der Franken unser Massstab ist, sondern der Mensch», wie er 1955 in einer Festschrift schrieb. Tatsächlich waren die Arbeitsbedingungen bei der Migros lange besser als in anderen Betrieben. Besonders Frauen hätten früh anständige Löhne erhalten, sagt der Historiker Jakob Tanner. Für den sozialen Gedanken sei Duttweiler durchaus glaubwürdig eingestanden: «Durch die Umwandlung der Migros in eine Genossenschaft verschenkte er seinen Betrieb gewissermassen dem Land und den Kund:innen.»
Die Migros wollte ein Gegenentwurf sein – einer, der die Anliegen der Arbeiter:innen mit denen der Kapitalist:innen versöhnen sollte. Das 1942 erstmals erschienene Magazin des Betriebs nannte sich zunächst «Wir Brückenbauer». «Duttweiler war gegen den Klassenkampf und gegen die Arbeiterbewegung», sagt Tanner. Gewerkschaften habe Duttweiler immer schon abgelehnt. Stattdessen sah die genossenschaftliche Struktur eine eigene Delegiertenversammlung vor, die es bis heute gibt, die aber nur selten öffentlich zu Wort kommt.
Die Migros verfolgte schon früh eine Politik der Befriedung. Sie prägte, was sich später als ökonomisches und politisches Erfolgsmodell durchsetzen würde: eine sozialliberale Perspektive auf Arbeiter:innen, die in diesen nicht nur Produktionsmittel sieht – sondern auch Konsument:innen erkennt. Elsa F. Gasser, Duttweilers rechte Hand, machte sich derweil in den fünfziger Jahren über die «Volksdemokratien» der kommunistischen Länder lustig, wie Jakob Tanner in einem Aufsatz über die Ökonomin schreibt. Sie habe dagegen eine Trickle-down-Ideologie vertreten. «Gasser glaubte daran, dass von einem rationalisierten Betrieb schliesslich alle profitieren.»
Und kaum ein Unternehmen rationalisiert den Detailhandel besser als die Migros. Als Schweizer Pionierin der Selbstbedienungsgeschäfte wächst sie mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der sechziger und siebziger Jahre kräftig mit. Sie liefert, so Tanner, zu dieser Zeit den Beweis dafür, dass sich die kapitalistische Wachstumslogik auch in eine Genossenschaftsstruktur einschreiben kann. Die MMM-Kaufhäuser entstehen. Immer mehr Industriebetriebe werden vertikal in das Unternehmen integriert. Die Migros habe sich zwar weiterhin als soziales Unternehmen positioniert, sagt Tanner, Arbeitsbedingungen seien dabei aber nicht im Vordergrund gestanden: «Von deutlich besseren Konditionen bei der Migros als bei der Konkurrenz ist keine Rede mehr.»
Die subventionierte Migros
Lange geht das gut. Der Wohlstand wächst. «Unterschichtet» von Hunderttausenden sogenannten Fremdarbeiter:innen, so Tanner, öffnen sich auf dem Arbeitsmarkt für schweizerische Arbeitnehmer:innen neue Aufstiegschancen. Abgesehen von der Migros-internen Opposition Ende der siebziger Jahre durch den Verein «M-Frühling», der das Unternehmen von links für seine Wachstumspolitik kritisiert, bleibt es lange eher still um den Konzern. Bis in den Neunzigern unter veränderten ökonomischen Bedingungen auch bei der Migros wieder soziale Konflikte aufbrechen. Das Unternehmen begegnet ihnen zunächst mit einer beispiellosen Nonchalance.
Im Jahr 2000 befragt die TV-Sendung «Rundschau» Migros-Angestellte zu ihrem Lohn. Diese berichten von einem Leben am Existenzminimum, trotz jahrelanger Erfahrung und Ausbildung, erwähnen staatliche Fürsorgegelder, auf die sie angewiesen seien – trotz Hundertprozentstelle. Working Poor in «Duttis» sozialer Migros. Die befragten Kaderleute, darunter Herbert Bolliger, Leiter der Migros Genossenschaft Aare, zeigen sich uneinsichtig, haben keine Ahnung, wie wenig ihre Angestellten verdienen, sprechen von Einzelfällen oder empfehlen den Angestellten in Not eine Budgetberatung.
Als eine Vertreterin der Fürsorgeeinrichtung Bern in der Sendung davon spricht, dass der Staat damit die Migros subventioniere, ist die Empörung in der Bevölkerung gross, die Umsätze in den Migros-Filialen brechen kurzfristig ein. Im Dezember 2000 gibt der Migros-Genossenschafts-Bund dem Druck nach und beschliesst, dass keine Vollzeitarbeitenden mehr unter 3000 Franken verdienen sollten. Sämtliche Angestellte werden dem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt.
Doch ob den Kämpfen um den Mindestlohn geht die Beziehung zu den Gewerkschaften in die Brüche. Bald wird die Unia aus dem GAV ausgeschlossen. Sie spricht von einer «Strafe» für ihre Mindestlohnkampagne gegen die Migros. Auch Syna tritt 2008 aus dem GAV aus. Die beiden Gewerkschaften werfen dem Unternehmen eine «kommunikative Kontrollmentalität» vor.
Die Konflikte dauern bis heute an. Als im Februar dieses Jahres die Migros-Tochter Micarna die Schliessung einer Fabrik in der Waadt ankündigt, organisieren sich die dortigen Arbeiter:innen. Neunzig Prozent von ihnen mandatieren die Unia mit ihrer Vertretung. Trotzdem ist das Unternehmen erst zum Gespräch mit der Gewerkschaft bereit, als die Kantonsregierung ein Schlichtungsverfahren einleitet. Die Migros betont, dass die Unia nicht zu ihren Sozialpartnern zähle. Die tatsächlichen Sozialpartner, also KV Schweiz und der Metzgereipersonal-Verband, werfen der Unia in verdächtiger Eintracht vor, «politisches Kapital» aus der Situation der Angestellten zu schlagen. Die Schlichtung sei derzeit immer noch in Gang, sagt die Unia auf Nachfrage dazu. Als beteiligte Partei dürfe sie sich nicht dazu äussern.
Unvermeidliche «Verschlankung»
Zur aktuellen Umstrukturierung äusserst sich Leena Schmitter aber pointiert. Sie ist bei der Unia für die Detailhandelsbranche verantwortlich. Während die Migros ihren vorbildlichen Sozialplan für die gekündigten Mitarbeiter:innen bewirbt, sagt Schmitter: «Vom angeblich so vorbildlichen Sozialplan haben unsere Mitglieder aus den Medien erfahren.» Sie fordert, dass die Migros ganz auf Entlassungen verzichtet und konzernintern neue Stellen für die Beschäftigten findet. Die Migros komme ihrer sozialen Verantwortung nicht nach, und unter der Belegschaft herrsche ein Klima der Angst.
Schmitter beruft sich dabei auf Aussagen von Gewerkschaftsmitgliedern: Die Unia darf die Migros zwar nur von der Seitenlinie aus kommentieren; trotzdem sind viele Arbeiter:innen der Migros der grössten Schweizer Gewerkschaft angeschlossen. Nur angehört werden diese eben nicht. Schmitter sagt sogar, Migros-Mitarbeitende würden aktiv daran gehindert, mit der Gewerkschaft zu sprechen. Die Migros schreibt auf Anfrage, die Unia sei keine anerkannte Sozialpartnerin; ihren Angestellten stehe es aber frei, mit allen Arbeitnehmendenverbänden zu sprechen. «Werbende Aktivitäten» auf dem Gelände der Migros seien aber genehmigungspflichtig. Und sie betont, dass sie ihren Sozialplan gemeinsam mit ihren Sozialpartnern ausgearbeitet habe.
Die Entlassungen seien «leider unvermeidlich», heisst es in der entsprechenden Medienmitteilung. Wenn sie auch künftig tiefe Preise für Kund:innen anbieten will, kommt die Migros, so impliziert es die Unternehmenskommunikation, ohne diese Verschlankung nicht aus. Eine Begründung, die die Kritiker:innen zum Schweigen bringen mag: Von einer billigen Migros profitierten schliesslich alle. In ihrem Zeitungsartikel von 1959 schreibt die Migros-Ökonomin Elsa F. Gasser: «Gerade im Essen sollen die Klassenunterschiede immer mehr verschwinden.» Und überall sonst?
Kommentare
Kommentar von hu60
Fr., 31.05.2024 - 15:28
Danke den Schreibenden für den Artikel. Was aber auch hier viel zu wenig erwähnt wird sind die Ursachen, wieso eine einschneidende Restrukturierung so dringend nötig wurde:
Unfähiges Management verschleuderte hunderte Millionen mit grottenschlechten Entscheidungen im Ausland und in der Schweiz (Kredit an Benko: 200 Mio).
Nun brauchen die ratlosen Chefs eine McKinsey, damit sie den schwarzen Peter weiterschieben können. Die Konsequenzen trägt das Personal, das nichts dafür kann und die Kundschaft, die zu grossen Teilen zur Konkurrenz abwandert.
Auswechselung der Mostköpfe? Fehlanzeige!