Auf allen Kanälen: Schaffhauser Reflexe
Eine Frau wird von drei Männern brutal zusammengeschlagen. Was danach passiert, wirft kein gutes Licht auf die Berichterstattung über geschlechtsspezifische Gewalt.

«Die Bilder im Beitrag von Simon Christen können verstörend wirken», sagt der Moderator noch in die Kamera, und schon sieht man, wie Fabienne W. zusammengeschlagen wird. Der 23-minütige Beitrag der SRF-«Rundschau» zeigt immer wieder Bilder roher Gewalt.
Seit der Ausstrahlung am 22. Mai beschäftigt der «Fall Schaffhausen» die Schweiz. Es geht um geschlechtsspezifische Gewalt von gravierendem Ausmass, aufgezeichnet von Überwachungskameras, die ein Anwalt in seiner Wohnung, die zum Tatort wurde, installiert hatte. Die Strafverfolgungsbehörden schienen an diesem Material wenig interessiert, wie der «Rundschau»-Beitrag zeigt. Als Polizisten am Tag nach der Tat – Fabienne W. lag zu dieser Zeit mit einem Schädel-Hirn-Trauma, mehreren Hämatomen und Prellungen im Spital – die Bilder einer der Überwachungskameras vom Handy des Anwalts abfilmten, plauderten sie mit ihm über Musik und die Schaffhauser Ausgangsszene. Es zeigt eine Solidarität unter Männern, die auch ein Schädel-Hirn-Trauma und die Bilder von Überwachungskameras nicht zerrütten können.
Intime Details veröffentlicht
Nur wenige Tage danach versammelten sich in Schaffhausen mehrere Hundert Menschen und trugen ihre Solidarität mit Fabienne W. und ihren Unmut über die Behörden auf die Strasse. Zu diesem Zeitpunkt war die linke «Schaffhauser AZ» bereits mit ihrer eigenen Recherche beschäftigt. In einem vier Seiten langen Artikel kam die lokale Wochenzeitung zum Schluss, dass das Narrativ der «Rundschau», wonach die Täter Fabienne W. hatten einschüchtern wollen, damit sie eine vorgängige Vergewaltigung nicht anzeige, «kaum haltbar» sei. Um zu beweisen, dass die Tat nicht geplant gewesen sei, druckte sie die aufgezeichneten Ereignisse jener Nacht als ausführliches Wortprotokoll ab.
Auch wenn die kleine «AZ» dem grossen SRF-Gefäss so Fehler in der Berichterstattung nachweisen konnte – sie selbst schoss mit diesem Protokoll über das Ziel hinaus. Denn weder ist ein Protokoll per se «objektiv», noch – und das ist weit gravierender – sind die teils sehr intimen und persönlichen Details der Betroffenen für die Öffentlichkeit gedacht. Wenn eine Frau von drei Männern über Stunden fast zu Tode geprügelt wird, spielt ihr vorheriger Konsum keine Rolle und ihre ökonomische Situation schon gar nicht. Auch über den Anwalt sparte der Artikel nicht mit privaten Informationen. Als hätte man dem Publikum und sich selbst beweisen wollen, wie gut lokal vernetzt man sei und wie akribisch man im Vergleich zum weit ressourcenreicheren Fernsehen recherchiere.
Komplett verpasst hat die «AZ» mit ihrem verengten Fokus auf die Intimitäten im Protokoll, was ein wichtiges Resultat ihrer Recherche hätten sein können und müssen: festzustellen, wie schwer die Gewalttat war, und einzuordnen, in welchem gesellschaftlichen Kontext sie stattfand. Ein Eindruck, den der Autor des Artikels kurz darauf in einer Radiosendung mit der verunglückten Formulierung bestätigte, es gebe in keiner Geschichte hundertprozentige Opfer und Täter.
Immerhin: Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung ihres Artikels hat ihm die «Schaffhauser AZ» online den Hinweis vorangestellt, dass die Kritik gehört und in der Redaktion diskutiert werde; in der nächsten Ausgabe folgte dann eine ausführliche Entschuldigung für «eine Reihe von Fehlern», die passiert seien. Die Aussage in der Radiosendung sei «unüberlegt und komplett falsch» gewesen. Trotzdem sind die intimen Details aus dem Protokoll bis heute in voller Länge online nachlesbar.
Der Täter im Interview
Der Fall zeigt letztlich, wie unsorgfältig die Berichterstattung zu geschlechtsspezifischer Gewalt noch immer ist. Das stellte auch die NZZ am 8. Juni fest. Den Medien fehle die Empathie – sie hätten reflexartig weggeschwenkt vom Opfer und was ihm widerfahren sei. Als hätte man dies noch unter Beweis stellen wollen, führte die «SonntagsZeitung» tags darauf ein ganzseitiges Interview mit dem Täter, der seine Reue beteuern und dabei noch mehr Details über seinen Kontakt mit Fabienne W. ausbreiten durfte.
Der «Fall Schaffhausen» macht einmal mehr deutlich, weshalb sich so wenige Frauen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit trauen. Denn selbst wenn Videoaufnahmen aus mehreren Winkeln alles dokumentieren, riskieren Frauen damit viel.