Menschenrechte: Für Assange heisst für uns alle

Nr. 8 –

Der Anblick hat fast etwas Biblisches: Ordnungskräfte zerren einen Mann mit schlohweissem Bart aus einem Gebäude, stossen ihn draussen in ein wartendes Auto. Er hebt mahnend den Zeigefinger, ruft der versammelten Presse etwas zu, das im allgemeinen Getöse allerdings untergeht. Der Mann, der sich in den Armen der Beamten windet, heisst Julian Assange. Die Aufnahmen zeigen seine Verhaftung im April 2019.

Selbstgerecht und erratisch, unsympathisch und narzisstisch: Die negativen Zuschreibungen für den Wikileaks-Gründer sind vielfältig. Auch jene, die ihn gut kennen, beschreiben ihn als schwierige Figur, während andere ihn als Propheten verehren. Zusätzlich schwer wiegen die Vorwürfe wegen sexueller Nötigung aus Schweden, auch wenn das Verfahren nach jahrelanger Aufrechterhaltung inzwischen eingestellt wurde.

Doch für das Drama, in dem es um so vieles geht – von Spionagevorwürfen und dem Feldzug gegen unliebsame Medien über Geheimdienstüberwachung bis zu Fragen von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten – und an dessen Ende womöglich 175 Jahre Haft stehen, sind Assanges polarisierender Charakter wie auch seine Verfehlungen unerheblich. So verlockend es ist, die Person des Anarchopublizisten ins Zentrum zu stellen, nichts könnte kurzsichtiger sein. Denn der Fall weist weit über die tragische Figur hinaus.

Seit seiner Verhaftung in der ecuadorianischen Botschaft, wo er sich zuvor sieben Jahre lang versteckt hielt, sitzt Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh ein, einem Ort, der als «Grossbritanniens Guantánamo» gilt. Am Montag beginnt in London der Prozess: Dann wird über einen Auslieferungsantrag der US-Justiz befunden. Diese hat den 48-Jährigen unter dem «Espionage Act» angeklagt – und will ihn vor ein Geschworenengericht in Virginia bringen.

ExpertInnen sagen ein langwieriges Verfahren voraus. Sollte dem Auslieferungsantrag schliesslich stattgegeben werden, nimmt in der ostamerikanischen Provinz der letzte Akt eines Dramas seinen Lauf, in dem sich zwei Jahrzehnte der Weltgeschichte spiegeln. Um dies zu begreifen, muss man sich noch einmal vor Augen halten, mit welch ungeheuerlichen Infos Wikileaks die Öffentlichkeit damals versorgt hat.

Da war das «Collateral Murder»-Video, das zeigte, wie Piloten eines US-Helikopters in Bagdad ZivilistInnen und Journalisten niedermetzelten. Oder die Grausamkeiten der Feldzüge in Afghanistan und im Irak. Das Material zeige, «wie Sicherheitsdenken und Anti-Terror-Überlegungen jede Ebene amerikanischer Aussenpolitik durchdrungen haben», schrieb der Historiker Timothy Garton Ash kurz nach einer weiteren Veröffentlichung: jener von einer Viertelmillion diplomatischer Depeschen.

Seit dem 11. September 2001 hat nicht nur die US-Regierung rechtsstaatliche Standards ihrem «Krieg gegen den Terror» untergeordnet. Mit seinen Publikationen stellte Wikileaks dieses auf totaler Überwachung und Repression basierende System radikal infrage – und gab der Öffentlichkeit damit einen Teil der demokratischen Kontrolle zurück.

Die AktivistInnen der Plattform bekämpfen nichts weniger als die Herrschaft. Mit der Verfolgung ihrer Symbolfigur schlägt diese mit aller Wucht zurück. Inzwischen hat der Feldzug gegen Assange und die ungeliebte Presse längst Nachahmer gefunden: Nach diesem Vorbild ging Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro gegen den «Intercept»-Mann Glenn Greenwald vor.

«Wenn sie dich am Morgen holen, kommen sie in der gleichen Nacht auch zu uns», schrieb James Baldwin 1970 an Angela Davis, damals wegen «Terrorunterstützung» angeklagt und später freigesprochen. Glücklicherweise sind die Scheinwerfer der Weltöffentlichkeit zurzeit auf Julian Assange gerichtet, Prominente und Politikerinnen, Journalistinnen und Ärzte setzen sich für ihn ein. Was bleibt, ist eine eigentlich banale Erkenntnis: Wenn die Menschenrechte einer Person vor aller Augen fundamental verletzt werden – und sei diese noch so umstritten –, sind alle betroffen.