Pop: Post von einem Geist
In der Marktverweigerung marktfähig: Cindy Lees «Diamond Jubilee» begeistert das Indie-Feuilleton mit nebliger Nostalgie.
Eine Mathematiklehrerin, die tatsächlich Frau Mohn hiess und einen schönen Thurgauer Dialekt redete, hat einmal gesagt, dass wir jene Lebensfragen, die uns Kopfzerbrechen bereiten, auf einen Zettel schreiben sollen. «Den legt ihr neben das Bett, und kurz vor dem Aufwachen erhaltet ihr vielleicht eine Antwort.» Die mystische Frau Mohn hatte womöglich recht, nur: Die Fragen fangen dann meistens erst an.
Das nur am Rand, wegen des kanadischen Musikphänomens Cindy Lee und der Zuschreibung «Hypnagogic Pop», die ihm vorauseilt. In dem Genre wird an einer Art musikalischer Psychedelik laboriert, kurzgeschlossen mit dem kollektiven Pop-Unterbewusstsein: Hypnagogic Pop interessiert sich schöpferisch für vergangene Pop- und Rocktraditionen, sowohl formal als auch inhaltlich; für alte Radiogeräte etwa oder für bestimmte musikalische Klischees. «Hypnagogisch» verweist dabei eher bildhaft auf diesen Zustand zwischen Schlaf- und Wachphase, in dem einen traumhafte Ahnungen besuchen können. Mit dieser Halbbewusstheit nähert sich das hypnagogisch motivierte Popindividuum dem Glühen vergangener Dekaden an. Wer sich mit Cindy Lee beschäftigt, bekommt es erst mal mit solchen Geistern zu tun.
Kriegsschwein
Ein Raunen ging im Frühling durch die Musikfreundeskreise, besonders durch jene, die mit US-amerikanischem Indie sozialisiert worden waren: Cindy Lee, hast du es gehört? Ein Geheimtipp, der verdächtig weitläufig kursierte, durch eine Art lautes Flüstern. Dabei geisterten die Namen Cindy Lee und Patrick Flegel bereits seit längerem herum. Flegel, der Kopf unter der Dragqueenperücke von Cindy Lee, der gegen Ende der nuller Jahre eine fast durchgestartete Band namens Women hatte, geniesst alle Gunst des amerikanischen Onlinemusikjournalismus. Die Meinungen waren beim Album «What’s Tonight to Eternity» 2020 schon hoch, vor «Diamond Jubilee» verbeugte man sich. Das Kritikportal «Pitchfork» vergab die grosszügigste Bewertung seit Jahren; der Radiosender NPR titelte: «Wie Cindy Lee zur Underground-Erfolgsstory von 2024 wurde».
Die Story geht so: Patrick Flegel hatte genug von den spätmodernen Mechanismen der Musikindustrie. Über den bekannten schwedischen Streaminganbieter notierte Flegel auf der eigenen Website, im Original in Grossbuchstaben: «Der CEO von Spotify ist ein Dieb und ein Kriegsschwein.» Das Album erschien daher ausschliesslich auf kleinen Labels, in Gesamtlänge trotzdem auf Youtube und wahlweise als zahlungspflichtiger Download über Geocities-Websites, ein Relikt aus dem frühen Internet: diesem Internet, das grellgrün oder neongelb auf schwarz leuchtete und in dem jede:r gratis ein digitales Zelt aufstellen konnte. «Diamond Jubilee» verbreitete sich wie im Flug.
Man hört sich also das Album auf Youtube an, immer wieder. Dazu köchelt vielleicht eine Suppe, vielleicht liegt man im Bett und dämmert ab und zu seitlich weg. Aus den Lautsprechern überfallen einen Melodien auf der elektrischen Gitarre, sonnengegerbte, tröstlich-traurige. Und obskure Plastikorgeln. Von vergilbtem Filz gedämpfte Schlagzeugfelle. Aufgeschnappte Zeilen, die dermassen vertraut sind, dass man sie fast simultan mitfisteln kann. Man ist da, wo man zwar noch nie war, aber auf einen reichen, ferngesehenen Bilderschatz zurückgreifen kann. Man hat etwa plötzlich ein «kalifornisches» Gefühl, obwohl man noch nie in ein Flugzeug gestiegen ist.
Zwischen Aufladung und Leere
In der britischen Hauntology-Theorie, auf die sich Hypnagogic Pop bezieht, geht es auch um verdrängte, nicht ausgeschöpfte Potenziale früherer Zeiten. Im Dialog mit dem Jetzt geht dieses Verfahren über das Kopieren von Stilen, wie es Retro- oder Vintagekonzepte bestimmt, hinaus. Nach einem Hype in den zehner Jahren zählte der modische Begriff allerdings bald wenig: Als «hypnagogic» markierte Musik war oft nichts weiter als eine nostalgisch-ästhetische Fantasie, die mit den richtigen Synthesizer-Plug-ins und passender Archivfootage massenhaft ins Internet geladen werden konnte.
Beiläufig simmert auch «Diamond Jubilee» in vielen Momenten fast zu angenehm, klingt nach einer halben Idee, nach der nicht genau bestimmbaren Generik einer Spotify-Playlist. Dazu lässt sich kochen, schlafen und im schlimmsten Fall sogar arbeiten, während im Hintergrund jemand mit einem flotten Automobil über den Highway der Zeit gleitet. Die Sammlung von Stücken pendelt zwischen glimmender Aufladung und beängstigender Leere. Und ist daher, bei aller ästhetischen Verliebtheit ins Gestern, offensichtlich von jetzt: nicht, dass sich eine künstliche Intelligenz tatsächlich den Spass gegönnt hätte, mit dem nostalgischen Gefühlshaushalt von Generationen «Twin Peaks»-Enthusiast:innen herumzuspielen.
Die Lieder und Zeilen, auch das weiss das Internet, hat sich ein psychisch volatiles Geschöpf wie Patrick Flegel schon selbst ausgedacht. Und einen zu hundert Prozent persönlichen Schmerz in die zu hundert Prozent unpersönliche, allgemein zugängliche Postkartenästhetik übersetzt, in den durchaus wunderlichen Hyperhistorismus von «Diamond Jubilee». Unbeantwortet aber liegen weiterhin Zettel neben dem Bett, vor allem: Ob die Geister wirklich kommen, wenn man sie so direkt ruft?