Wohnungskrise: Es geht um mehr als ein Dach über dem Kopf

Nr. 26 –

Menschen mit kleinem Einkommen seien in besonderem Mass vom Wohnungsmangel betroffen, schreibt die Caritas in einem neuen Papier. Wie fatal die Folgen sind, erzählt eine alleinerziehende Mutter.

Lisa Schneider* sucht eine bezahlbare Wohnung in der Stadt Zürich. Wer dort lebt, weiss, was das bedeutet: unzählige Bewerbungen verschicken, um überhaupt an eine Besichtigung eingeladen zu werden; sich mit Dutzenden anderen Bewerber:innen Wohnungen anschauen, nur um eine Absage nach der anderen zu bekommen. Schneider hat Suchabos auf Immobilienportalen und bei Genossenschaften abgeschlossen. Sie hat ihr Dossier auf dem Handy gespeichert, um sich sofort bewerben zu können. Gereicht hat das bisher nicht. Kürzlich habe sie ein Mail mit der Ausschreibung einer neuen Wohnung erhalten und sich zehn Minuten später darauf beworben. Zu spät: Die Wohnung war schon weg.

Für Schneider ist die Situation besonders schwierig: Sie ist Mutter von fünf Kindern, bezieht Sozialhilfe und ist erst seit kurzem in Zürich gemeldet, weshalb ihr noch nicht alle Unterstützungsangebote zur Verfügung stehen. In die Stadt kam sie mit der Hilfe der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde nach dem Ende ihrer Beziehung: Plötzlich stand sie mit den Kindern alleine da – in einem Dorf mit schlechter ÖV-Anbindung und kaum Entlastungsangeboten, noch dazu in einem baufälligen Haus. «Ich dachte, der Umzug nach Zürich ist die Chance, meine Kinder aus der Armutsschlaufe herauszuholen», sagt die 39-Jährige. Für ein paar Monate hat Schneider zwar eine Wohnung für die Familie gefunden; auf Anfang August muss sie allerdings ausziehen – wohin, weiss sie noch nicht.

Weniger Geld, weniger Auswahl

Von Wohnungsmangel spricht der Bund, wenn die Leerwohnungsziffer zwischen 1 und 1,5 Prozent beträgt. In der Schweiz liegt diese Kennzahl aktuell bei 1,15 Prozent. Besonders ausgeprägt ist der Mangel in urbanen Gebieten wie der Stadt Zürich, wo die Anzahl leerer Wohnungen letztes Jahr bei 0,06 Prozent lag – was bereits als Wohnungsnot gilt. Es gibt allerdings nicht nur regionale Unterschiede: Besondere Schwierigkeiten, eine geeignete und bezahlbare Wohnung zu finden, haben Menschen mit geringem Einkommen. Entsprechend schlägt die Caritas Alarm: Die Wohnungskrise verschärfe die Armut, betont das Hilfswerk.

«Bei der Caritas sind wir täglich mit der Lebensrealität von Menschen konfrontiert, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen», sagte Direktor Peter Lack an einer Pressekonferenz in Bern am Dienstag, an der das Hilfswerk ein Positionspapier zum Thema vorstellte. Gestützt auf Daten aus nationalen Erhebungen und Befragungen, kommen die Autor:innen darin zum Schluss, dass Menschen mit tiefem Einkommen stärker von der Situation auf dem Wohnungsmarkt abhängig sind – nicht nur, weil sie weniger Auswahl haben, sondern auch, weil sie einen proportional höheren Teil ihres Einkommens für die Mietkosten aufwenden müssen. So geben die ärmsten zwanzig Prozent rund ein Drittel ihres Lohns fürs Wohnen aus.

Armut reproduziert sich

«Viele Haushalte mit tiefem Einkommen bewerben sich aber auch auf Wohnungen, die ihre finanziellen Möglichkeiten stark übersteigen», sagte Aline Masé, die bei der Caritas die Fachstelle Sozialpolitik leitet, in Bern. Insbesondere ein Wohnungswechsel aufgrund einer Kündigung oder einer veränderten Situation stelle die Betroffenen vielfach vor grosse Probleme: weil die Mieten bei neu abgeschlossenen Verträgen stärker stiegen als Bestandsmieten. Zudem würden bei einem Wohnungswechsel oft auch Kautionen verlangt, die die Möglichkeiten von Menschen in prekären finanziellen Situationen überstiegen. «Gleichzeitig gibt es für Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind, auch strukturelle Hürden bei der Wohnungssuche», so Masé. Dazu gehörten fehlende Netzwerke oder Sprachkenntnisse, aber auch Diskriminierung aufgrund von Sozialhilfebezug.

Lisa Schneider glaubt nicht, dass ihr der Bezug von Sozialhilfe bei der Wohnungssuche schadet. «Ich habe auch schon bei Zuständigen nachgefragt, ob an meinem Dossier irgendetwas falsch ist», erzählt sie. Man habe ihr bestätigt, es sei alles in Ordnung, doch seien andere entweder schneller bei der Bewerbung oder in einer noch dringenderen Notlage als sie und ihre Familie. Die ungewisse Situation, das permanente Suchen zerren an ihr. «Es belastet mich körperlich und psychisch sehr, ich bin in einer Art Erschöpfungszustand.» Regelmässig liege sie die halbe Nacht wach. Und auch die Kinder litten unter der Ungewissheit: Eine ihrer Töchter habe Migräneanfälle, eine andere sei von Neurodermitisschüben betroffen. Schliesslich machten die vielen Wohnungswechsel es den Kindern schwer, Freundschaften zu pflegen, sagt Schneider.

Beim Wohnen gehe es um mehr als bloss darum, ein Dach über dem Kopf zu haben, so Aline Masé von der Caritas. «Eine prekäre Wohnsituation wirkt sich negativ auf die physische und psychische Gesundheit aus, führt zu Stress und erschwert die soziale und wirtschaftliche Integration.» Dass Armut krank macht, belegen auch diverse Studien: Demnach leiden Armutsbetroffene unter anderem häufiger an chronischen Erkrankungen. Sie verbleiben ausserdem öfter in unpassenden Wohnverhältnissen, etwa in zu lauten oder zu kleinen Wohnungen, woraus sich zusätzliche Probleme ergeben können. Fehlt es Kindern an einem Rückzugsort, um in Ruhe die Hausaufgaben zu erledigen, verschlechtern sich möglicherweise ihre Bildungschancen. Kurz gesagt: Armut reproduziert sich.

Die Hoffnung nicht aufgeben

Die Politik habe in Sachen Wohnungskrise zwar Handlungsbedarf erkannt, es jedoch verpasst, griffige Massnahmen für Haushalte mit tiefen Einkommen zu beschliessen, so Caritas-Direktor Lack. Er bezieht sich dabei auf den runden Tisch zum Thema Wohnungsknappheit, den SVP-Bundesrat Guy Parmelin dieses Jahr zum zweiten Mal veranstaltete. Der daraus entstandene Aktionsplan empfiehlt dreissig Massnahmen, etwa in Bereichen der Wohnraumförderung und des Wohnungsbaus. Wegen des Mangels an «konkreten Antworten auf drängende Probleme» bezeichnete der Mieterinnen- und Mieterverband den Plan als «Augenwischerei».

Die Caritas ruft derweil in ihrem Papier Kantone und Gemeinden dazu auf, «bestehende Handlungsspielräume zu nutzen», um günstige Wohnungen bereitzustellen und gemeinnützigen Wohnungsbau zu fördern. Abgesehen davon fordert die Organisation aber auch sozialpolitische Massnahmen: die Entlastung durch Mietzinsbeiträge für Familien etwa, wie sie unter anderem die Kantone Genf und Basel-Stadt kennen. «Wohnpolitik ist Armutspolitik», so Peter Lack.

Lisa Schneider ist etwas beruhigt, seit sie weiss, dass sie und ihre Kinder im August nicht auf der Strasse stehen werden. Die für sie zuständige Mitarbeiterin der städtischen Sozialen Dienste kann sie bald für ein Angebot für obdachlose Familien mit unterhaltspflichtigen Kindern anmelden, das auf sechs Monate befristet ist. «Lieber eine Notunterkunft in Zürich als zurück aufs Land», sagt Schneider. Die Hoffnung, auf dem Markt noch eine Wohnung zu finden, hat sie trotz allem nicht aufgegeben.

* Name geändert.