Durch den Monat mit Reinhard Seiss (Teil 1): Sitzt uns das Auto tief in der Seele?

Nr. 27 –

Der Wiener Stadtplaner und Filmemacher Reinhard Seiss hat einen Film über die vom Auto dominierte Gesellschaft gedreht: «Der automobile Mensch». Er erklärt, was der Reiz des Autos mit der Evolution zu tun hat und wie wir es am besten loswerden.

Portraitfoto von Reinhard Seiss
«Weil das bei uns so tief sitzt, mit minimaler Körperenergie eine maximale Wirkung zu erzielen, hat das Autofahren einen so grossen Reiz»: Reinhard Seiss.  

WOZ: Reinhard Seiss, Ihr neuer Dokumentarfilm widmet sich dem «automobilen Menschen», mit diversen Beispielen aus dem deutschsprachigen Raum. Das klingt fast schon nach einer anthropologischen These.

Reinhard Seiss: Da liegen Sie völlig richtig. Der automobile Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er sich einen Alltag ohne Auto nicht mehr vorstellen kann. Das gilt für viele – selbst in einer Stadt wie Wien, wo ich wohne, die innersten Bezirke einmal ausgenommen. Das Auto funktioniert wie ein Stock für einen gehschwachen Menschen, es ist zu einem selbstverständlichen Teil der Existenz, gar der Person geworden. Eine Redensart veranschaulicht das schön: Zwei verlassen ein Lokal, und einer fragt: «Na, wo stehst denn du?», und meint damit, wo das Auto geparkt ist.

Das klingt, als würde uns das Auto ganz tief in der Seele sitzen, als wäre es ganz schwierig, es wieder loszuwerden.

Auf jeden Fall. Dazu gibt es einen interessanten Gedanken von Hermann Knoflacher, dem Pionier des alternativen Verkehrsdenkens in Österreich, und das seit über fünfzig Jahren. Knoflacher erklärt den Reiz des Autos so: Eine Million Jahre lang musste der Mensch wie jedes Lebewesen danach trachten, seine Körperenergie möglichst effizient zu nutzen. Der Mensch war immer mobil, aber das hat viel Energie gekostet. Mit dem Auto ist es plötzlich möglich, durch eine kleine Bewegung mit dem Fuss, das Drücken des Gaspedals, die individuelle Reichweite und Geschwindigkeit zu vervielfachen. Weil das bei uns so tief sitzt, mit minimaler Körperenergie eine maximale Wirkung zu erzielen, hat das Autofahren zwangsläufig einen so grossen Reiz. Die individuelle Freiheit, die viele mit dem Auto assoziieren, ist auch die Befreiung von der uralten Notwendigkeit, sorgsam mit Energie umzugehen.

Knoflacher sagt im Film auch, dass die Menschen ja eigentlich in einer Welt leben wollten, die nicht vom Auto geprägt sei. Sind Sie auch so optimistisch?

Eine überwiegende Mehrheit sieht ein, dass es ein Wahnsinn ist, was wir mit der Landschaft, den Böden, dem Klima tun. Die meisten sind bereit, auf den überzogenen Autogebrauch zu verzichten, wenn es – da sind wir wieder bei der Energieeffizienz – gleich bequem ist, eine Alternative zu nutzen. Diese gibt es oder gäbe es, ohne dass wir dafür auf technologische Quantensprünge hoffen müssten.

Zum Beispiel?

Ich nenne nur die zwei wichtigsten Massnahmen. Natürlich bräuchte es eine viel bessere Situation fürs Radfahren und den öffentlichen Verkehr. Und würden wir unsere Siedlungsstruktur umbauen, könnten wir die zurückgelegten Wege drastisch reduzieren und uns unabhängig vom Auto machen. Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums ist man ja auch schnell mal 400 Meter zu Fuss unterwegs. Wenn diese 400 Meter zu einem Laden vor der Haustür liegen, haben wir gewonnen.

Unter den aktuellen Bedingungen ist es also nicht nur irrational, Auto zu fahren?

Objektiv betrachtet ist es das in vielen Fällen, aber subjektiv oft nicht, weil man dadurch Zeit, Energie und Kosten sparen kann. Eine Reise für vier Personen von Linz nach Wien ist mit dem Auto einfach günstiger als mit der Bahn, das ist die Schieflage. Im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg kann man sein Auto für zehn Euro ein ganzes Jahr lang am Strassenrand parken. Wäre die dafür benötigte Fläche gleich teuer wie die Wohnungen an derselben Strasse, würde sie 15 000 Euro pro Jahr kosten.

Fahren Sie selber Auto?

Ich habe selber noch nie ein Auto besessen. Aber ich bin in Oberösterreich auf dem Land aufgewachsen. Dort verbringe ich noch mehrheitlich den Sommer, weil es in Wien so unerträglich heiss ist, wenn man nicht gerade in der Badehose herumläuft. Als Kind habe ich da natürlich ein Leben mitbekommen, bei dem das Auto dazugehört. Aber man hat es damals seltener und bewusster eingesetzt. Ich bin jedenfalls kein einziges Mal zur Schule gefahren worden. Mit achtzehn bin ich dann nach Wien fürs Studium, ab da hat das Auto für mich keine Rolle mehr gespielt. Wenn ich heute am Attersee bin, fällt mir schon auf, dass ich einer von ganz wenigen bin, die für die 500 Meter zum örtlichen Supermarkt aufs Fahrrad und nicht ins Auto steigen. Wenn ich in Wien einkaufen gehe – ich habe zwei Kinder –, trage ich bis zu fünfzig Kilogramm in Rucksack und Einkaufstasche. Da sehe ich niemanden sonst, der das tut.

Sie sind Stadtplaner. Haben Sie in diesem Kontext angefangen, über das Auto nachzudenken?

Ja, auch dank Hermann Knoflacher, bei dem ich studiert habe. Ohne ihn hätte ich das Raumplanungsstudium auch machen können, ohne mich gross mit dem Auto auseinanderzusetzen. Er hat uns beigebracht, dass das Auto eine der zentralen Schrauben ist, um auf die Entwicklung des Siedlungsraums und der Stadt einzuwirken.

Reinhard Seiss (54) ist freiberuflicher Stadtplaner, Berater, Filmemacher und Fachpublizist. Er leitet den Verein URBAN+, der kritisch über Stadt- und Raumplanung informiert. Sein Film «Der automobile Mensch» kommt im Herbst in die Schweiz.