Kino: Können Untote weinen?

Eine sanfte Kamerabewegung durch eine dunkle Osloer Wohnung, zwei ältere Frauen tanzen zusammen zu «Ne me quitte pas». Eine der beiden ist kürzlich gestorben, die andere wird ihr bald folgen. «Man muss vergessen, alles lässt sich vergessen», singt Nina Simone traurig. Aus dem von einem matten Schleier überzogenen Auge der Verstorbenen, der hier ein letzter Tanz mit ihrer Lebensgefährtin vergönnt wird, löst sich eine einzelne Träne.
Anderswo am selben Abend glaubt Mahler aus dem Grab seines Enkels ein dumpfes Geräusch zu vernehmen und kann nicht anders, als sich im Auto eine Schaufel zu holen. Etwas später kommt Anna von der Arbeit nach Hause in ihre etwas gespenstisch wirkende Wohnung. Erst wischt sie Krümel vom Küchentisch, putzt sich die Zähne und erblickt dann im Kinderzimmer ihren Sohn in seinem Kinderbett. Zurück in der Küche zündet sie sich eine Zigarette an, nimmt drei nervöse Züge, wickelt sich mehrere Schichten Plastikfolie um das Gesicht und klappt zusammen. Mahler findet sie gerade noch rechtzeitig.
Vielleicht hängen im Film «Handling the Undead» der stadtweite Stromausfall und die Wiederbelebung der Toten zusammen, in einer Art metaphysischer Wahrung des Energieerhaltungssatzes. Alle anderen Verhältnisse hingegen geraten hier nachhaltig aus dem Lot. Wenn verstorbene Körper, egal in welchem Stadium der Verwesung, wieder lebendig würden, gilt dasselbe auch für die Personen, die diese einst beseelten? Fühlt ein Zombie Nostalgie für sein verlorenes Leben und die vergangene Liebe? Und wie wäre dann sein Beissreflex zu deuten? Alle Ereignisse in diesem beschaulichsten aller Zombiefilme lassen jedenfalls vermuten, dass noch unerträglicher als der Tod der nächsten Angehörigen deren Wiedererwachen in einem versehrten Körper wäre.
«Handling the Undead» basiert auf dem gleichnamigen Roman von John Ajvide Lindqvist, der sich mit den literarischen Vorlagen zu «Let the Right One In» (2008) und «Border» (2018) an die Spitze des nordischen Monstersozialrealismus geschrieben hat. Wer von Gruselerzählungen Angst, Schrecken und blutiges Spektakel erwartet, mag etwas enttäuscht oder gar gelangweilt sein. Für Zuschauer:innen allerdings, die von gerade diesen Faktoren davon abgehalten werden, sich dem Potenzial auszusetzen, das Horrorfilme zur Auseinandersetzung mit Tod und Trauer haben, kann «Handling the Undead» eine augenöffnende Erfahrung sein.
Dazu tragen auch Pål Ulvik Rokseths fast unerträglich schöne, auf 35-Millimeter-Film im sommerlich-schwülen Oslo eingefangene Bilder bei, genauso wie die Regie Thea Hvistendahls bei ihrem ersten Langspielfilm. Sie inszeniert die drei grösstenteils voneinander losgelösten Erzählungen mit einem Minimum an Dialogen, dafür mit enormem Gespür für Atmosphäre und Naturalismus, etwa beim Aussehen der Untoten, deren Maske sich am realen biochemischen Verwesungsprozess orientiert. So werden nicht nur die Filmfiguren von einem sanft-erhabenen Schaudern erfasst, sondern auch die Zuschauer:innen – und das lange über den Kinobesuch hinaus.
«Handling the Undead». Regie: Thea Hvistendahl. Norwegen 2024. Jetzt im Kino.