Altersvorsorge: Der Prognose-Gau

Nr. 32 –

Der Bund hat die finanzielle Zukunft der AHV um Milliarden schlechter gerechnet, als sie sein wird. Das befeuerte die Vorsorgedebatte neu.

Elisabeth Baume-Schneider an einer Pressekonferenz
Eine Untersuchung muss klären, wie es zum Fehler kommen konnte. Elisabeth Baume-Schneider stellte sich am Dienstag den Fragen der Medien. Foto: Valentin Flauraud, Keystone

Totgerechnete leben länger. Allen Untergangsprognosen zum Trotz tickt die AHV seit ihrer Gründung 1948 zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk und zahlt die Renten aus. Mit der Annahme der 13. AHV-Initiative steigen sie ab 2026 sogar deutlich. Jetzt allerdings waren es für einmal nicht die üblichen Verdächtigen, die mit ihren Prognosen die Zukunft des Vorsorgewerks dramatisieren, um darauf ihre Vorsorgepolitik zu bauen: bürgerliche Parteien, Wirtschaftsverbände und die Finanzindustrie. Es ist das SP-geführte Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), das seine Finanzperspektiven kübeln muss.

Am Dienstag räumten BSV-Direktor Stéphane Rossini und sein Stellvertreter an einer Pressekonferenz ein, dass zwei fehlerhafte Formeln im Programmcode die Finanzperspektive der AHV stark verzerrt hatten: Die Ausgaben werden demnach ab dem Jahr 2033 um jährlich 4 Milliarden Franken geringer ausfallen als bislang kommuniziert. Das Umlagedefizit beläuft sich dann nicht auf 7,3 Milliarden Franken, sondern auf 4 Milliarden. Offenbar beeinflussen die fehlerhaften Formeln die Prognosen des Bundes bereits seit 2019.

Das ist eine eigentliche Bombe, die da platzt. Denn diese Finanzperspektiven bilden letztlich die Grundlage für die künftige Gestaltung der Altersvorsorge. Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider hat daher richtigerweise eine Administrativuntersuchung eingeleitet. Denn noch ist unklar, wie es im Detail zu einem solchen Fehler kommen konnte. Klar ist allerdings: Dieser Fehler untergräbt das Vertrauen in die Institutionen.

Streit spitzt sich zu

Die Altersvorsorgepolitik polarisiert die Schweiz wie kaum ein anderes Thema seit mindestens zehn Jahren. 2014 wollte der Gewerkschaftsbund die Renten um zehn Prozent erhöhen und scheiterte an der Urne deutlich. Das passierte 2017 auch Alain Bersets moderater Vorlage, allerdings relativ knapp. Eine Annahme hätte die Finanzierungsfrage auf Jahre hinaus beruhigt. Ihr Scheitern war ein Erfolg von FDP und SVP, die bis heute kompromisslos in Richtung Rentenaltererhöhung drängen. Im Herbst 2022 beschloss das Stimmvolk äusserst knapp die Rentenaltererhöhung der Frauen. Ein weiterer Punkt für die Bürgerlichen, die damals ihre Reihen schlossen.

Im laufenden Jahr folgten schliesslich zwei grosse Erfolge für die Linke: Die Stimmbürger:innen sagten deutlich Ja zur Gewerkschaftsinitiative für eine 13. AHV-Rente und erteilten gleichzeitig der Rentenaltererhöhungsinitiative der Jungfreisinnigen eine dramatische Abfuhr. Diese Resultate erschütterten die Welt der bürgerlichen Parteien. Insbesondere auf die FDP hatte dieses klare Verdikt keine kompromissfördernde Wirkung. Im Gegenteil: Sie radikalisiert sich in dieser Frage weiter. Bereits im September befindet das Stimmvolk über die umstrittene Reform der Pensionskassen. Selbst SVP-«Programmchefin» und Gastrosuisse-Vorständin Esther Friedli bekämpft die Reform. Die Fehlprognose des BSV spitzt den Streit nun nochmals zu. Das zeigen die unmittelbaren Reaktionen.

Abstimmung wiederholen?

Der FDP reicht die von Baume-Schneider eingeleitete Untersuchung nicht. Sie verlangt, dass die Geschäftsprüfungskommissionen von National- und Ständerat die Fehlleistungen im SP-geführten Departement untersuchen. Ausserdem fühlen sich die Freisinnigen in ihrer Position bestätigt, dass die Finanzierung der 13. AHV erst bei der nächsten Reform der AHV geklärt werden soll. Sie stilisiert die bisher übliche Finanzierung der AHV-Renten mit Lohnprozenten – und allenfalls einer Mehrwertsteuererhöhung – zur Belastung für Mittelstand und KMUs. Wird die Finanzierung vertagt, wachsen auch die Defizite. Das dürfte den Freisinnigen für ihr Ziel eines höheren Rentenalters entgegenkommen.

Eine interessante Forderung kommt vonseiten der SP-Frauen. Sie verlangen eine Wiederholung der Abstimmung über die Rentenaltererhöhung der Frauen. Auch der Gewerkschaftsbund und die Grünen stellen diese infrage. Die scheinbar dramatischen Finanzprognosen der AHV seien einer der Hauptgründe, weshalb die Erhöhung des Frauenrentenalters im September 2022 eine hauchdünne Mehrheit gefunden habe, argumentieren die SP-Frauen. Jetzt zeige sich: Diese Panikmache habe keine sachliche Grundlage gehabt. Der Strafrechtsprofessor Markus Schefer und der Staatsrechtler Felix Uhlmann räumen einer Beschwerde gegen die Abstimmung Chancen ein.

Das sind längst nicht alle Fragen, die neu beurteilt werden müssen. Finanzministerin Karin Keller-Sutter und mit ihr der Bundesrat will zudem den Bundesbeitrag an die AHV-Kasse im Rahmen eines Sparprogramms vorübergehend von 20,2 Prozent auf 18,7 Prozent kürzen. Auch diese Forderung steht nun zur Disposition. Die Linken pochen zudem darauf, den ungenügenden Teuerungsausgleich bei den Renten zu verbessern. Die Lage ist gerade unübersichtlich, die Altersvorsorgedebatte neu lanciert. Erwartbar war bisher in der AHV-Geschichte immer bloss eines: Die politisch oft durchsichtigen Prognosen lagen immer weit hinter den tatsächlichen Verhältnissen zurück. Das hat jetzt sogar unfreiwillig die Verwaltung bestätigt.